Igor Malickij (l-r), David Lewin, Ksenija Olchowa, Lidia Turowskaja und Maria Hörl, Überlebende des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz, treffen sich vor der Gedenkfeier anlässlich des 75. Jahrestags der Befreiung von Auschwitz.Bild: Jacek Bednarczyk/PAP/dpa
Beim Gedenken an die Befreiung von Auschwitz im ehemaligen deutschen Konzentrationslager vor 75 Jahren stehen die Überlebenden im Mittelpunkt. Rund 200 von ihnen sind dabei. Es ist ihnen wichtig, die Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen wach zu halten.
David Lewin versagt die Stimme. "Ich muss die Tränen
runterschlucken", sagt der 94-Jährige mit dem violetten
Rhombenpullover leise. "Die Schmerzen, die man mir damals zugefügt
hat, die tun mir heute noch weh." Dann erzählt er, wie er mit 17
Jahren im deutschen Konzentrationslager Auschwitz seinen Bruder
verlor. "Sie haben ihn einfach erschossen, ich weiß bis heute nicht,
warum. Das lässt mich nicht mehr los."
Lewin ist in Warschau geboren,
nach dem Aufstand im Warschauer Ghetto wurde er mit seinem Bruder
zunächst ins Konzentrationslager Majdanek deportiert, später kamen
beide nach Auschwitz.
Zum 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz durch die Rote Armee
ist Lewin zurückgekehrt in das ehemalige deutsche
Konzentrationslager. Er zählt zu den 200 Überlebenden, die bei der
Gedenkstunde dabei seien werden. Zeitzeugengespräche sind rar
geworden. Die früheren Häftlinge sollen im Mittelpunkt stehen, betont
daher Piotr Cywinski, Direktor des Museums Auschwitz-Birkenau: "Wir
machen das mit ihnen, für sie und ihretwegen."
Und eines ist den
Überlebenden besonders wichtig: Sie wollen die Erinnerung wachhalten
an das unfassbare Grauen und die nationalsozialistischen Verbrechen.
Die Überlebenden erinnern sich
"Ich erinnere mich an alles, was mir da passiert ist", sagt Igor
Malickij (94). Der hagere, temperamentvolle Mann aus Charkiw (Ukraine) trägt
seine Häftlingsjacke über seinem Anzug.
Mit 17 Jahren sei er in
Auschwitz eingeteilt worden, die Leichen aus der Gaskammer zu holen.
Neben einer toten nackten Frau habe er plötzlich ein Kind
herumkrabbeln sehen, das offenbar von dem Gas nicht getötet worden
war. "Ich sagte: 'Herr SS-Mann, das Kind ist noch nicht tot'." Der
Scherge habe das Kind mit dem Kopf gegen den Boden geschlagen und auf
den Haufen geworfen.
Igor Malickij und David Lewin am Sonntag in Oswiecim. Bild: picture alliance / PAP
Wie viele Menschen in Auschwitz-Birkenau, dem größten deutschen
Vernichtungslager, ermordet wurden, lässt sich wahrscheinlich nie
genau feststellen. Tausende wurden von den Deportationszügen direkt
in die Gaskammern geschickt, bekamen nicht einmal eine Lagernummer.
Fest steht: Mindestens 1,1 Millionen Menschen wurden in Auschwitz
vergast, zu Tode geprügelt oder erschossen, sie starben an
Krankheiten oder verhungerten.
Als Soldaten der Roten Armee am 27. Januar 1945 Auschwitz befreiten,
fanden sie dort noch rund 7500 Häftlinge, darunter 500 Kinder.
"Ich trage lange Ärmel, damit man die eintätowierte Nummer nicht sieht"
Auch diejenigen, die Auschwitz als Kinder überlebten, sind für ihr
Leben traumatisiert. Maria Hörl hat keine Erinnerung mehr an das
Lager, in das sie als knapp Zweijährige deportiert wurde. Die
Erinnerung setzt erst nach der Befreiung ein, als sie in einem
Waisenheim landet.
Die heute 77-Jährige sagt:
"Ich hatte kein Geburtsdatum, keinen Vornamen und keinen Nachnamen – aber ich war da."
Maria Hörl wurde von einer polnischen Familie adoptiert. Erst viele
Jahre später fand sie ihre richtige Familie, erfuhr, dass sie aus
einem weißrussischen Dorf stammt und ihre Mutter den Holocaust
überlebt hat. Das Grauen lässt sie trotzdem nicht los: "Ich hatte
immer Angst, dass jemand erfährt, dass ich im Lager war. Deshalb
trage ich immer lange Ärmel, damit man die eintätowierte Nummer nicht
sieht."
Die Auschwitz-Überlebenden Igor Malickij, David Lewin, Ksenija Olchowa, Lidia Turowskaja nund Maria Hörl. Bild: picture alliance / PAP
Als die Rote Armee immer näher an Auschwitz heranrückte, brachen die
SS-Wachen mit Zehntausenden Häftlingen zu den sogenannten
Todesmärschen Richtung Westen auf. David Lewin wurde im Januar 1945
mit anderen Gefangenen in Kohlewaggons ins Konzentrationslager
Buchenwald gebracht. Dort erlebte er die Befreiung durch die
Amerikaner. "Ich stand da, und das Gefühl von Freiheit hat mich
erstmal gar nicht berührt," erinnert er sich. Zwei Jahre habe er nach
der Hölle von Auschwitz gebraucht, um wieder gesund zu werden.
Doch was passiert in ein paar Jahren, wenn auch die letzten
Überlebenden gestorben sind und ihre Erinnerung nicht mehr teilen
können? Polens Oberrabbiner Michael Schudrich sieht die Zuhörer in
der Pflicht. Jeder, der heute die Geschichte von auch nur einem
Überlebenden höre, habe die Verantwortung, die Geschichte zu erinnern
und sie anderen zu erzählen, sagt Schudrich.
Und fügt hinzu:
"Wir sind jetzt das Gedächtnis der Überlebenden."
(dpa)