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"Assassins' Creed" statt "Effi Briest": Warum Games in die Schule gehören

Young private schoolgirl gestures while using virtual reality goggles at school.
Videospiele können den unterricht wunderbar ergänzen.Bild: Getty Images
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"Assassins' Creed" statt "Effi Briest": Warum Games auch in die Schule gehören

03.12.2020, 11:22
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Sie erzählen epochale Geschichten, behandeln Themen wie Depressionen, zwingen uns zu schweren moralischen Entscheidungen: Es gibt so viel, was uns Videospiele beibringen können – vor allem, weil sie uns Teil ihrer Erzählung werden lassen. Die "Assassins' Creed"-Reihe orientiert sich beispielsweise lose an historischen Ereignissen. Ein Ableger, "Origins", spielt im alten Ägypten. Während wir den Hauptcharakter auf einen Rachefeldzug begleiten, begegnen wir historischen Figuren wie Julius Caesar oder Kleopatra.

Für Schulen ist das die perfekte Ergänzung zum Geschichtsunterricht, zumal ein zusätzlicher Erkundungsmodus Kämpfe und Quests ausblendet und die Spielkulisse in ein Museum verwandelt. Kriegsspiele wie "This War of Mine" oder "Valiant Hearts: The Great War" wählen einen ähnlichen pädagogischen Ansatz. Wäre es also nicht sinnvoll, Videospiele zur Standardlektüre für Schulklassen zu machen? Lehrerinnen und Lehrer könnten dadurch mehr Schüler für ihren Unterricht begeistern, Schüler könnten sich wiederum verstanden fühlen. Eine Win-win-Situation.

So empfinden das auch Laura Jaenicke von der Landesanstalt für Kommunikation Baden Württemberg und Dejan Simonović, Leiter der Computerspielschule Stuttgart. Zusammen starteten sie das Projekt "Games im Unterricht", eine Plattform für den pädadogischen Einsatz von Videospielen. Wir sprachen mit den beiden über Mario-Level im Sportunterricht, Vorurteile über Videospiele und warum Gaming auch bei psychischen Erkrankungen helfen kann.

"Letztlich ist Medien- und Popkulturkompetenz wichtig, damit Lehrer mit ihren Schülern auf Augenhöhe sprechen können."
Dejan Simonović

watson: Wie lassen sich Videospiele in den Unterricht einbinden?

Laura: Ganz unterschiedlich. In einer Schule haben Lehrer zum Beispiel Sims und Minecraft eingesetzt, um Schülerinnen und Schüler ihre Traumschule bauen zu lassen.

Dejan: Es kann auch sein, dass historische Themen anhand von Spielen besprochen werden. In dem Strategiespiel "Through the Darkest of Times" geht es darum, einen Widerstand im Dritten Reich zu formieren. Die "Assassins Creed"-Reihe hingegen bildet ganze Epochen – mehr oder minder – historisch korrekt ab. Beides eignet sich für den Geschichts-, aber auch Politik- oder Deutschunterricht.

Für Kunst würde es sich hingegen anbieten, die Aufmachung oder das Charakterdesign zu diskutieren, vielleicht sogar Basics zum Punkt Grafikdesign zu vermitteln.

Dejan: Klar, Grenzen gibt es an sich kaum. Für Informatik bietet sich die Spieleentwicklung an. Da helfen wir dann, Grundlagen im Programmieren zu vermitteln. Musik- und Rhythmusspiele bieten sich wiederum für den Musikunterricht an, etwa "Beat Saber" und "One Hand Clapping".

Laura: Auch der Sportunterricht harmoniert mit dem Thema. An einer Schule haben Pädagogen einen Parcours im "Super Mario"-Stil aufgebaut, den die Schülerinnen und Schüler durchlaufen können. Plötzlich war es nicht mehr die öde Sporthalle, sondern ein Level. Evergreens wie "Minecraft" funktionieren etwa im Physikunterricht. Im Geschichtsunterricht gab es ein Projekt, in dem ein Lehrer mit seinen Schülern das Schloss Versailles in "Minecraft" nachbaute. Das hebt sich dann vom Nacherzählen historischer Ereignisse ab.

Literatur lässt sich leicht mit dem Unterricht verknüpfen. Filme ebenso. Das liegt wohl auch an der Zugänglichkeit. Bei Videospielen ist es hingegen schwierig. Wer nicht spielt, versteht Games und die Begeisterung dafür nur bedingt. Wie soll jemand zu einem Thema unterrichten, zu dem er keinen Bezug hat?

Dejan: Bei Lehrern, die bisher keinen wirklichen Kontakt mit dem Medium hatten, ist es wichtig, dass sie sich zunächst mit dem Thema generell auseinandersetzen und verstehen, was die Kids da eigentlich spielen. Das Battle-Royal-Spiel "Fortnite" wäre da ein gutes Beispiel. Anfangs wirkte es für Lehrer noch befremdlich. Hier hilft es, aufzuklären, was "Fortnite" eigentlich ist und was dahintersteckt. Dafür bieten wir Workshops an. Letztlich ist Medien- und Popkulturkompetenz wichtig, damit Lehrer mit ihren Schülern auf Augenhöhe sprechen können.

"Auslöser für eine Sucht sind nicht Videospiele, sondern die sozialen Umstände."
Dejan Simonović

Spiele könnten ja auch dabei helfen, eine Brücke zwischen Schülern und Lehrern zu schlagen.

Dejan: Es ist für Lehrer eine große Chance, wenn sie sich mit diesem Medium auskennen und sich mit ihren Schülern austauschen können. Oft haben Lehrer Angst, die Kontrolle zu verlieren. Im klassischen Bild steht der Lehrer vorne und die Schüler hören zu. Moderner wäre es, den Mut zu haben, Schüler auch als Experten hinzuziehen. Natürlich müssen die Lehrer auch eine reflektierte Meinung abgeben, aber Schüler sollten ermutigt werden, eigene Themen einzubringen und zu diskutieren. Verständnis wäre da ein Anfang.

Neben der Sucht gibt es noch eine Menge weiterer Vorurteile gegen Videospiele, gerade unter älteren Lehrern.

Dejan: Also, da kann ich ganz positiv aus eigenen Erfahrungen berichten. Wenn ich mit Lehrern oder Lehrerinnen oder Eltern spreche, merke ich immer wieder ein gewisses Vertrauen. Wir hatten auch den Ansatz, dass jeder vorbeikommen und Spiele ausprobieren darf. Und ja, viele kamen und haben gespielt. Allerdings nur kurz. Wohingegen sich das offene Gespräch über das Thema als wesentlich zielgerichteter erwiesen hat. Man muss Erwachsenen, die keine Games spielen, klarmachen, dass das Thema in den klassischen Medien wie Fernsehen oder Zeitung unterrepräsentiert ist, aber dafür im Internet auf verschiedensten Plattformen sehr stark vertreten ist und damit für die Jugend- und Popkultur heutzutage eine sehr große Rolle spielt.

Laura: Wir nehmen Bedenken bezüglich Videospiele ernst und wollen sie nicht verharmlosen. Steht jemand Spielen aufgrund von Vorurteilen kritisch gegenüber, sprechen wir mit der Person. Fühlen sich die Menschen ernst genommen, bauen sie Vertrauen auf. Auch Studien zu dem Thema liefern immer gute Punkte.

Dejan: Bei Jugendlichen und Schülern merkt man hingegen, was für Diskussionsbedarf es gibt. Sobald sie sich respektiert fühlen, sind sie offener – auch für kritische Themen. Etwa bei Computerspielsucht zeigen sie sich sehr reflektiert.

"Bei "This War of Mine" steht etwa das Überleben im Krieg im Vordergrund, wo es nicht um die Soldaten, sondern um Zivilisten geht. Entscheidungen können Leben retten, aber auch beenden. Alles hat seine Konsequenzen."
Dejan Simonović

Zur Computerspielsucht gab es kürzlich auch eine DAK-Studie, bei der herauskam, das Jugendliche in Corona-Zeiten täglich im Schnitt eine Stunde mehr spielten als davor. Wie bewertet ihr das?

Laura: Klar, die Spieldauer hat sich erhöht, aber das ist kein Anzeichen für eine Sucht. Wenn die Möglichkeiten wieder bestehen, geraten wieder andere Beschäftigungen draußen in den Vordergrund.

Dejan: Rein fachlich betrachtet, kann man eine Suchterkrankung erst nach mindestens zwölf Monaten klar diagnostizieren und dabei ist die erhöhte Spieldauer weder das einzige und noch das entscheidende Kriterium. Natürlich ist es in der Corona-Situation normal, dass die Menschen sich verstärkt anderen Dingen widmen, etwa Computerspielen. Allerdings müsste man auch beobachten, wie sich das weiterhin verhält. Corona wird uns wahrscheinlich noch eine Weile begleiten. Zudem sind der Auslöser für eine Sucht Videospiele, sondern die sozialen Umstände. Kommt jemand mit seiner Familie nicht zurecht, muss aber zwangsläufig mit ihr Zeit verbringen, während zeitgleich die Kontakte wegbrechen, kann eine Sucht verstärkt ein Thema werden. Doch hier muss man den Einzelfall betrachten. Manche kommen mit der Situation gut zurecht, andere weniger.

Videospiele erzählen häufig auch komplexe Geschichten über Moral. Würde sich diese nicht auch als Unterrichtsgegenstand anbieten – auch in Corona-Zeiten?

Dejan: Natürlich gibt es auch Spiele, die komplexe Inhalte einbringen. In manchen Spielen müssen wir ja auch moralisch schwer verdauliche Entscheidungen treffen. Bei "This War of Mine" steht etwa das Überleben im Krieg im Vordergrund, wo es nicht um die Soldaten, sondern um Zivilisten geht. Entscheidungen können Leben retten, aber auch beenden. Alles hat seine Konsequenzen. Bei "Life is Strange" geht es etwa um einen Teenager und die Probleme, die er im Alltag hat. Da sind wir auch dran, etwas auszuarbeiten, womit Schulen arbeiten können.

Wobei in "Life is Strange" auch Depressionen und Suizid behandelt werden. Besteht da nicht die Gefahr für einen Werther-Effekt? Was kann man tun, um das zu vermeiden?

Dejan: Entsprechend stark müssen wir uns mit der Tiefe und Wirkung auseinandersetzen. Man muss sensibel sein, vor allem wenn jemand in einer Klasse von einem vergleichbaren Schicksal betroffen ist. Das gilt für andere Medien genauso. Nachdem die Serie "13 Reasons why" auf Netflix erschienen ist, hat eine Studie gezeigt, dass die Suizidrate unter Jugendlichen in den USA nachweislich gestiegen ist. Es ist ein sehr heikles Thema, bei dem man aufpassen muss.

Es kommt eben stark auf die Umsetzung an.

Dejan: Wir wollen nicht nur einzelne Spiele behandeln, sondern auch den medienpädagogischen Hintergrund aufzeigen. Es gibt immer Themen, die aufkommen – etwa Gewalt und Videospiele. Da gibt es viele Vorurteile, aber auch Studien, die das Ganze differenzierter behandeln. Doch auch das Thema Gender und Videospiele ist für Schüler und Schülerinnen interessant. So gibt es im Bereich Gaming noch immer ein großes Problem mit Sexismus, nicht nur unter Spielern, auch in der Branche. Wir beleuchten aber auch das Thema Computerspielsucht. Klar, wir sind keine Suchtberatungsstelle, aber da es dazu einen großen Gesprächsbedarf gibt, versuchen wir da zu helfen und Betroffene an die richtigen Adressen weiterzuleiten. Auch da bietet sich an, Videospiele und Schulen in Einklang zu bringen.