Verfallene Häuser, Billig-Wodka-Flaschen im Gebüsch, rauchende Muttis, die ihre Kinder vom Bürgersteig aufsammeln: Willkommen in Altes Lager in Brandenburg. Einem Ort, an dem die Welt nicht nur ins Wanken geraten scheint, sondern schon vor langer Zeit von den Beinen gerissen wurde.
Das legen zumindest die Bilder nahe, die in der letzten Staffel "Hartz und herzlich" bei RTL 2 zu sehen waren: Die Armutsshow zeigt Altes Lager, ein Viertel in der Gemeinde Niedergörsdorf, als isoliertes Brennpunktviertel. Für die Sendung wurden mehrere Bewohner monatelang vom Kamerateam begleitet, eines haben sie alle gemeinsam: Sie leben von Hartz IV.
Glaubt man der RTL-2-Sendung, müssen Hartz-IV-Empfänger nicht nur vom Existenzminimum leben, sondern davon ihre Zigaretten-, Alkohol- und Drogensucht finanzieren oder Geldstrafen abbezahlen. Es ist ein trauriges Bild, das "Hartz und herzlich" von den Bewohnern von Altes Lager und Menschen in Armut generell zeichnet.
Dass die Auswahl der Protagonisten extrem war, findet auch Helmut Balke: Der 50-Jährige wohnt selbst in Altes Lager und absolviert gerade einen Bundesfreiwilligendienst in der Kirche. Für ihn ist die Darstellung seines Wohnortes bei RTL 2 deutlich zu einseitig und negativ, wie er watson gegenüber sagt. Er befürchtet:
Um ein Zeichen gegen "Hartz und herzlich" zu setzen, hat Balke nun eine Serie über seine Wahlheimat gestartet – auf Youtube. Der Titel lautet, passenderweise: "So ist Altes Lager – ohne RTL 2".
Darin versucht Balke, die positiven Aspekte des Ortes zu zeigen, die seiner Meinung nach in "Hartz und herzlich" vernachlässigt worden sind:
Tatsächlich ist auch in der RTL-2-Show der Wald zu sehen, der Altes Lager umgibt. Erwähnt wird er allerdings lediglich im Zusammenhang mit den Waldbränden, die noch vor einigen Monaten in Brandenburg loderten. In einer Folge war sogar von einer Evakuierung des Wohnviertels die Rede.
Einige der Menschen, die in der letzten Staffel "Hartz und herzlich" zu sehen waren, kennt Balke persönlich. Andere nur vom Sehen her. Menschen wie der Alkoholiker Rainer, der im Laufe der Dreharbeiten an den Folgen seines Alkoholismus verstorben ist, sind ortsbekannt. So tragisch manche der Schicksale in Altes Lager auch sind: Balke meint, sie sollten nicht als Aushängeschild für den Ort dienen. Zu watson sagt er:
Probleme wie Alkoholismus und Drogen seien auch in anderen Schichten verbreitet. "Wohlhabendere Menschen verfügen nur über mehr Mittel, um so etwas zu überspielen", mutmaßt Balke. Dass dennoch eher die tragischen Extremfälle vor die Kamera gebracht werden, erklärt er sich damit, dass sie wahrscheinlich für höhere Einschaltquoten sorgen:
Was Leben von Hartz IV bedeutet, weiß Balke aus eigener Erfahrung: Einst hatte er sein eigenes Unternehmen, das er aus gesundheitlichen Gründen aufgeben musste. So ist er selbst in Arbeitslosengeld II gerutscht, wie die finanzielle Unterstützung eigentlich heißt. "So wurde aus dem angesehenen Geschäftsmann plötzlich der Hartz-IV-Empfänger, mit dem man besser nicht mehr spricht", erzählt Balke.
Dass Menschen oftmals ein negatives Bild von Hartz-IV-Empfängern haben, musste Balke am eigenen Leib erfahren. "Es gab einige Freunde und Bekannte, die von mir abgerückt sind", berichtet er. "Sie haben meine Situation nicht verstanden, dachten, ich sitze den ganzen Tag nur herum. Dabei wurde ich berufsunfähig geschrieben."
Bis heute stockt er auf, während er in der kirchlichen Gemeinde ehrenamtlich hilft. Wenn das Programm in wenigen Monaten vorbei ist, will Balke sich umschulen lassen und so wieder Arbeit in Vollzeit finden.
Mit den gezeigten Hartz-IV-Empfängern bei "Hartz und herzlich" kann Balke sich offensichtlich nicht identifizieren. Die dort gezeigten Protagonisten zeichnen sich weniger durch ihren Status als Leistungsempfänger aus, als mehr durch teils fragwürdiges Verhalten und Süchte, die nicht stellvertretend sind für diese soziale Gruppe.
Hartz IV ist nur eines der Probleme im Leben dieser Menschen, das nur ein vermeintlicher gemeinsamer Nenner ist. Süchte, Schicksalsschläge und mangelnde Bildung sind weitere, weit einflussreichere.
Balke berichtet, dass das Kamerateam der Produktionsfirma von "Hartz und herzlich", Ufa Show & Factual, wochenlang durch den Ort gelaufen seien und Menschen auf der Straße, am Bahnhof oder im Jugendtreff angesprochen hätten, ob sie mitwirken möchten. "Das einzige, was sie nicht gemacht haben, war, unangemeldet an den Haustüren zu klingeln", sagt Balke.
Watson hat RTL 2 und Ufa Show & Factual mit Balkes Kritik an der Darstellung von Altes Lager konfrontiert und nachgefragt, wie die Protagonisten gecastet wurden.
Direkt beantwortet haben weder der Sender noch die Produktionsfirma watsons Fragen. Wie sie Balkes Kritik empfinden, bleibt ungeklärt. Ein Sprecher von RTL 2 schickte folgendes Statement per E-Mail:
Weiterhin schreibt der Sprecher, die zuständige Produktionsfirma sei über mehrere Monate fast täglich vor Ort gewesen. Die Produzenten und das Kamerateam stehen auch nach Abschluss der Dreharbeiten mit den Protagonisten in Kontakt. Nach welchen Aspekten die Protagonisten gecastet wurden, bleibt unklar.
Warum "Hartz und herzlich" ausgerechnet in Altes Lager in Niedergörsdorf gedreht wurde, dazu schreibt Ufa Show & Factual:
Auch eine Sprecherin der Produktionsfirma bestätigt, viele Monate lang täglich Zeit mit den Protagonisten zu verbringen und auch weiterhin mit ihnen in Kontakt zu stehen. Das ist sicherlich gut für die Protagonisten – dem Ort Altes Lager selbst hilft das nur bedingt.
Watson hat die Gemeinde Niedergörsdorf ebenfalls kontaktiert und zur Darstellung von Altes Lager in "Hartz und herzlich" sowie zu Balkes Kritik befragt. Doreen Boßdorf, die Bürgermeisterin der Gemeinde Niedergörsdorf, sagt:
Weiterhin verweist sie auf die gute Infrastruktur, wirtschaftliche Entwicklung und soziale Struktur, aber auch kulturelle und sportliche Angebote, wie das Kulturzentrum oder das Sportstadium.
Zudem meint die Sprecherin, Einwohner wie Helmut Balke seien über die Darstellung des Ortes enttäuscht, weil sie nicht wollen, dass ihre Heimat derart verunglimpft wird. Über die RTL-2-Sendung sagt sie:
Ein Großteil der fast 2000 Einwohner lebe in geordneten Verhältnissen und sei stolz auf die Entwicklung des Ortes in den letzten 20 Jahren.
Die Nachwirkung der Armutsshow bleibt im Ort hängen wie ein düsteres Echo. Noch heute wird Balke täglich angesprochen auf die Wirkung der Sendung und wie sie zum schlechten Ruf des Wohngebiets beigetragen hat. Mit seiner Kritik steht Balke offenbar nicht allein dar.
Von seiner Youtube-Serie hat Balke mittlerweile drei Folgen veröffentlicht. Die Zuschauerzahl von "Hartz und herzlich" hat er damit noch deutlich nicht erreicht. Aber immerhin ein Zeichen gesetzt.