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Ein Tag mit Ann Cathrin Riedel: Diese Frau will digitale Bürgerrechte im Bundestag verteidigen

Ann Cathrin Riedel im Flur ihrer Wohnung in Berlin-Friedrichshain.
Ann Cathrin Riedel im Flur ihrer Wohnung in Berlin-Friedrichshain. bild: watson
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...Ann Cathrin Riedel: "Wie geil ist es, schlauer zu werden?" – Diese Frau will digitale Bürgerrechte im Bundestag verteidigen

Ann Cathrin Riedel hat sich einen Namen gemacht, als Fürsprecherin für das Recht auf die eigenen Daten und ein freies Internet. Jetzt will die 33-Jährige für die FDP in den Bundestag – aus einem der rot-rot-grünsten Wahlkreise Deutschlands.
21.02.2021, 14:2702.09.2021, 12:34
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Jetzt leuchtet Mama, als Pushnachricht auf dem Smartphone-Display. "Bist Du jetzt der Laschet vom Friedrichshain?" Ann Cathrin Riedel lächelt. Schöner Vergleich, eigentlich – aber ihre Zahl ist ja noch viel besser. Laschet haben sie mit gut 53 Prozent zum CDU-Chef gemacht, gut zwei Kilometer Luftlinie von hier entfernt. Riedel hat 100 Prozent der Stimmen bekommen, vor ein paar Minuten, an diesem Januartag, in diesem Hochhaus in Berlin-Kreuzberg. Ann Cathrin Riedel ist jetzt offiziell Bundestagskandidatin der FDP für den Wahlkreis 83, Berlin-Friedrichshain – Kreuzberg – Prenzlauer Berg Ost.

Mit ihren Daumen auf dem Bildschirm arbeitet sie sich weiter durch die Glückwünsche. Ein Tweet: "Die für mich heute wichtige Wahl war, @anncathrin87 zur Wahlkreiskandidatin im WK 83 zu wählen". Riedel antwortet mit zwei Herz-Emojis. Später postet sie ein Selfie von sich in einer Instagram-Story, mit den Augen in Richtung Kamera und einer schwarzen Mund-Nase-Bedeckung auf dem Gesicht, darauf ein Wort in weißer, arabischer Schrift. Darunter schreibt sie: "Ich freue mich so sehr und bin unglaublich dankbar für den enormen Rückwind!"

Ann Cathrin Riedel, 33 Jahre alt, will im September für die FDP ins Parlament. Ob sie eine echte Chance hat, darüber verrät ihr Ergebnis wenig. 23 von 23 anwesenden FDP-Mitgliedern haben für sie gestimmt, in einem Kreis mit gut 200.000 Wahlberechtigten. Dass Riedel das Direktmandat gewinnt, ist in etwa so wahrscheinlich wie eine deutschlandweite absolute Mehrheit der FDP bei der Bundestagswahl. Seit 1990 hat kein FDP-Kandidat mehr ein Direktmandat erobert, nirgendwo in Deutschland.

Ein normales Wahlergebnis hier in Kreuzberg-Friedrichshain-Prenzlauer Berg Ost sieht so aus: Linke knapp 30 Prozent, Grüne über 20, SPD knapp darunter. So links wie hier sind die Mehrheiten fast nirgends im Land. Um eine Chance zu haben, braucht Ann Cathrin Riedel noch einen guten Platz auf der Berliner Landesliste der FDP: Einer unter den ersten vier müsste es sein, damit es wirklich etwas werden kann mit dem Sitz im Bundestag.

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Auf der Bühne mit Edmund Stoiber und Eko Fresh

Ann Cathrin Riedel hat sich einen Namen gemacht, in jahrelanger Arbeit. Ihr Thema sind die digitalen Bürgerrechte. Riedel spricht und schreibt ausdauernd darüber, wie wichtig es sei, die Daten aller Menschen vor staatlicher Überwachung und vor Ausbeutung durch Digitalkonzerne zu schützen. Sie war auf Dutzenden Tagungen zu Gast, hat einen Vortrag und einen Workshop auf einer US-Tour der Digitalkonferenz "Republica" gehalten und vor der Europawahl 2019 mit dem einstigen CSU-Chef Edmund Stoiber und dem Rapper Eko Fresh diskutiert. Seit 2018 ist Riedel Vorsitzende von Load e.V., dem liberalen Verein für Netzpolitik, der der FDP nahesteht.

Ann Cathrin Riedel zelebriert gerne Humor. Sie witzelt auf Twitter über Menschen, die beim Atmen durch die FFP-2-Schutzmaske wie Kröten aussehen, über das grünen Pflanzen-Emoji, das neuerdings Menschen ans Ende ihrer digitalen Nachrichten schicken. Ihr Lieblingsemoji ist gerade das verdatterte Gesicht, mit dem Mund in einer Schlangenlinie.

Dazwischen bekommen ihre gut 9.000 Follower die harten Sachen: Tweets und Retweets zum rassistischen Terroranschlag von Hanau, zur Verurteilung zweier Journalistinnen in Belarus, zu Gewalt gegen Frauen.

Jetzt, an diesem Berliner Januartag im Hochhaus, lacht Riedel immer wieder leise auf, während sie sich durch Instagram-Stories, Tweets und private Nachrichten tippt. Dann steht sie auf, geht nach vorne und stellt sich vor. Die FDP-Mitglieder im Saal tragen alle eine Mund-Nase-Bedeckung, sonst dürften sie nicht hier sein. Die Stühle sind im Mindestabstand zueinander aufgestellt, auf dem beige-blauem PVC-Boden. Ann Cathrin Riedel trägt blaue Jeans, schwarzes Shirt, graukarierten Blazer, die schwarze Maske mit den arabischen Buchstaben über Mund und Nase. Sie steht an einem Mikrofon, vor hellen Lamellenvorhängen, hinter denen alle paar Minuten die Hochbahn vorbeirattert.

Sie spricht über digitale Bürgerrechte. "Das ist eines der wichtigsten Themen für die Zukunft", sagt sie. Und: "Es ist wichtig, jetzt etwas zu tun, weil so wenige dieses Thema auf dem Schirm haben". Während sie spricht, hält sie beide Arme angewinkelt, ihr Smartphone in der linken, immer wieder blickt sie darauf, es ist ihr Spickzettel.

Sie sagt:

"Ich glaube, es ist ganz ähnlich wie in der Klimapolitik: Wir müssen heute etwas tun, wenn wir in einer lebenswerten Zukunft leben wollen."

Ann Cathrin Riedel war schon Mitte der 1990er Jahre online, als Grundschülerin. Man musste damals noch ein Modem kreischen lassen, um überhaupt in diesem Internet zu sein. Von ihrem Vater, gelernter Fluggerätemechaniker und später IT-Manager, bekam sie damals so etwas wie ihren ersten Job. Ann Cathrin sollte eine Flugplanungssoftware auf Disketten überspielen, diese klobigen Rechtecke mit 1,44 Megabyte Speicherplatz. Für jede Diskette bekam sie fünf Pfennig.

Zur Politikerin hat sie die SPD gemacht, irgendwie. 2015 war das, die Sozialdemokraten stimmten auf einem Parteitag der Vorratsdatenspeicherung zu. Und Riedel, so erzählt sie es, war so wütend, dass sie der FDP beitrat, die sich dagegengestemmt hatte. Es war die Zeit, als die Liberalen nicht im Bundestag saßen.

Zurück zu ihrer Bewerbungsrede, zur schwarzen Maske mit weißer Aufschrift, die Ann Cathrin Riedel dabei über Nase und Mund trägt. "Habibi" ist das arabische Wort, das darauf steht. Es heißt sowohl Liebling als auch Freund, in Berlin-Friedrichshain und in Kreuzberg muss man das niemandem mehr erklären.

Riedel hat Islamwissenschaften und Politik studiert, unten in Tübingen. Geboren und aufgewachsen ist sie in Pinneberg, bei Hamburg. Es war eine "schöne Kindheit", sagt sie. Damals, in den Neunzigern, sei sie so schüchtern gewesen, dass sie nicht fotografiert werden wollte. Mit achtzehneinhalb Jahren ist sie von zu Hause ausgezogen, Ann Cathrin Riedel weiß das genaue Datum: 15. März 2006. Sie hatte mit Mama gestritten, es ging um den Putzplan. Den Dialog erzählt sie so nach:

Mama: "Na, dann kannst du ja ausziehen!"
Ann Cathrin: "Okay, mach' ich."

Ihr Vater wohnte da schon nicht mehr mit der Familie zusammen. Ann Cathrin Riedel lebte danach von seinem Unterhalt, von Kindergeld und Jobs als Kellnerin. Sie nahm sich eine eigene Wohnung. Es ging ihr schlecht. Die Noten rutschten in den Keller. "Ich habe Depressionen gehabt, glaube ich", sagt sie heute. Und: "Bereuen tu' ich's nicht." Das Abi hat sie dann geschafft. Und erst einmal zwei Jahre lang weiter gekellnert.

"Habibi" steht auf Arabisch auf Ann Cathrin Riedels Maske. In Berlin-Kreuzberg oder Friedrichshain muss man das Wort niemandem mehr erklären.
"Habibi" steht auf Arabisch auf Ann Cathrin Riedels Maske. In Berlin-Kreuzberg oder Friedrichshain muss man das Wort niemandem mehr erklären. bild: watson

Liebe für die freie Marktwirtschaft in Berlin-Friedrichshain? Schwierig

Es ist eben manchmal kompliziert, im Leben und in der Politik. Das rüberzubringen im Wahlkampf könnte für Ann Cathrin Riedel schwierig werden hier, in Berlin-Friedrichshain, als FDP-Politikerin. Sie vertritt die Partei, die ihre Liebe für die freie Marktwirtschaft hinausposaunt – in einem Kiez, in dem alle paar Meter jemand seinen Hass auf den Kapitalismus an eine Hauswand gesprayt hat.

Sie liebt das trotzdem alles sehr: Berlin, Friedrichshain, ihre Wohnung. Es ist ein Altbau, weiße, hohe Wände, Holzfußboden, ein frei stehender Gasherd in der Küche, Papierlampen an den Decken, ein Esszimmer, das gleichzeitig auch Wohnstube und Arbeitszimmer ist. Auf den zwei Tischen dort hat sie zwei Dutzend Bücher verteilt, von einem Sachbuch der US-Politologin Zeynep Tüfekçi über digital vernetzen Protest bis zu Hannah Arendt. Riedel ist gerade ein bisschen vernarrt in diese Großdenkerin, in ihre Idee, wie Politik aus dem Mut der Menschen entsteht, die in der Öffentlichkeit handeln wollen.

Am Vormittag, bevor sie zur Kandidatin gewählt wird, hat Riedel zu Hause Besuch von einem Fernsehteam. Der Beitrag ist abgedreht, sie hat über die Entscheidung von Twitter gesprochen, den abgewählten US-Präsidenten Donald Trump zu sperren. Das Aufnahmeteam baut gerade ab, einer von ihnen schäkert mit Riedel über ihren bevorstehenden Wahlkampf. Sie sagt, grinsend: "Ihr kommt mich dann besuchen, wenn die Riedel Tomaten in die Fresse bekommt." Einen Spaziergang von ihrer Wohnung entfernt liegt die Rigaer Straße 94, eines der letzten von Linksradikalen besetzen Häuser in Berlin.

Dabei tut sie sich selbst ja auch manchmal schwer mit ihrer Partei. Das Kopftuch ist so ein Thema. Nicht wenige FDP-Mitglieder und -Politiker sind für ein Verbot an bestimmten Orten, etwa für Richterinnen oder Lehrerinnen. Ann Cathrin Riedel kann sich darüber in Rage reden. Bei einer Frau, die studiert, müsse man doch immer vom besten ausgehen als Liberaler, der sonst alle paar Sätze die Eigenverantwortung der Menschen lobt. "Freunde der Sonne", sagt sie, "habt ihr noch nie mit 'ner Frau mit Kopftuch gesprochen?" Riedel erzählt von ihren Kopftuch tragenden muslimischen Freundinnen, denen sie von versoffenen Abenden und Tinder-Dates erzählt und dafür einen High Five bekommt.

Sie findet es "hochproblematisch", dass so wenig Menschen mit Migrationsgeschichte in der FDP sind. Riedel regt sich über diejenigen auf, für die Liberalismus nur "provokantes Ich-Ich-Ich" bedeute, bloß kein Tempolimit, möglichst wenig Steuern und ständige Attacken gegen die Grünen. "Die FDP wählt niemand, weil er die Grünen Scheiße findet", sagt Ann Cathrin Riedel.

Was ihr vorschwebt, nennt sie "Chancenliberalismus". Der Staat soll darin eine Rolle spielen, soll sich dort einmischen, wo es nötig ist. Er soll, sagt Riedel, für das Leben der Menschen "das Fundament bauen, auf dem du sagst: 'Da will ich mein Häuschen bauen'". In Tübingen, bei einem ihrer Jobs als Kellnerin, hat sie sich einmal verrechnet bei einem Gast, der zahlen wollte. Der Mann sagte zu ihr: "Sind Sie Hauptschülerin?" Eine Schulart als Schimpfwort, vor solchen Sprüchen graut es ihr, sagt sie.

In der FDP gibt es einige, die Liberalismus ähnlich verstehen wie sie. Der 31-jährige Bundestagsabgeordnete Konstantin Kuhle ist so jemand, die frühere Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger sowieso. Die schönsten Momente mit ihrer Partei erlebt Riedel, wenn sie SMS bekommt von Parteioberen, die ihren Rat oder ihre Meinung wissen wollen zur Digitalpolitik. Oder, wenn sie einen liberalen Jura-Nerd anruft, der ihr rechtliche Fragen erklärt. "Wie geil ist es, schlauer zu werden?", sagt Riedel.

In ihren Newsletter investiert Ann Cathrin Riedel acht Stunden pro Woche, sagt sie.
In ihren Newsletter investiert Ann Cathrin Riedel acht Stunden pro Woche, sagt sie. bild: watson

Sie tänzelt in Richtung Jamaika

Zweimal, sagt Riedel, habe sie sich ernsthaft gefragt, ob das noch etwas wird mit ihr und der FDP. Ende 2015 und Anfang 2016, als hunderttausende Flüchtlinge nach Deutschland kamen und die Diskussion um Migration besonders laut brodelte, auch in ihrer Partei. Und im Februar 2020, als sich in Thüringen FDP-Mann Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten wählen ließ, mit den Stimmen der AfD. Warum sie geblieben ist? Sie sagt:

"Die FDP wird nicht von alleine so, wie Du sie gerne haben willst."

Ihre Lieblingskoalition nach der Bundestagswahl? Mit der SPD fremdelt sie. Die Sozialdemokraten, findet sie, sind noch nicht richtig im 21. Jahrhundert angekommen, kümmern sich zu wenig um die Arbeitsverhältnisse von Clickworkern und Essensausfahrern und zu viel um Regeln wie die gesetzlich vorgeschriebene Ruhepause von 11 Stunden zwischen zwei Arbeitstagen. "Zwischen links und konservativ würde ich Richtung konservativ tänzeln", sagt Riedel. Also Jamaika, die FDP mit Grünen, CDU und CSU.

Mit dem Tänzeln ist das so eine Sache in diesem Jahr, ganz grundsätzlich gesprochen. Monatelang ist fast alles verboten, was Spaß macht. Im ersten Corona-Lockdown hat es sie heftig erwischt, erzählt Ann Cathrin Riedel. Sie fuhr raus aus Berlin, heim nach Pinneberg, zu Mama. Sie sagt: "Niemanden berühren zu dürfen, das hat mich zerrieben." Sie spricht über so etwas, auch jetzt, da sie in den Bundestag will. In Gesprächen und in Stories auf Instagram, über 2.000 Abonnentinnen und Abonnenten hat ihr Account. Schwäche zeigen, das will sie sich auch als Politikerin erlauben. Einmal hat ihr eine junge Frau in einer privaten Nachricht geschrieben: "Ich weine! Danke, dass Du Deine Stimme für alle einsetzt!"

Seit 2018 verschickt Ann Cathrin Riedel einen Newsletter, ziemlich genau alle sieben Tagen, immer am Wochenende. Über 1000 Menschen wollen inzwischen lesen, was sie zum Sturm Rechtsradikaler auf das US-Kapitol schreibt und zum digital gesäten Hass dahinter, zum neuen sozialen Audio-Netzwerk Clubhouse, zu Datenschutz und dem Kampf gegen das Coronavirus.

Acht Stunden koste sie die Arbeit dafür ungefähr pro Woche, sagt Riedel. Am Anfang schreibt sie immer ein paar persönliche Absätze, mal über die lavendelblaue Farbe des Berliner Himmels, mal über die Zähigkeit des Lockdown-Alltags. Im Januar beschließt sie diese persönlichen Worte so:

"Lasst es Euch gut gehen,

Ann Cathrin"


Was ja auch ein ziemlich liberaler Gruß ist.

Zurück im Hochhaus in Berlin. Ann Cathrin Riedel ist frisch gewählte Direktkandidatin. Sie fährt noch im Fahrstuhl nach oben, Fotos aufnehmen in der 22. Etage. Sie schreitet in einen großen, lichtdurchfluteten Saal, ihre Kreuzberger FDP-Mitstreiter sind schon da. Aus den Fenstern an der Westseite sieht man ein Stück Kreuzberg, den Potsdamer Platz, rechts davon die Reichstagskuppel. "So, das hier hat alles die FDP gemacht", sagt Riedel, die zweite Satzhälfe betont sie, ist natürlich ironisch gemeint. Und dann: "Na ja, nur die schönen Sachen." Witzeln mit Blick auf den Bundestag, könnte fast ein Wahlkampfmotto werden.

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