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Grünen-Fraktionschef Hofreiter zu Tönnies: "Das ganze System ist kaputt"

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Grünen-Politiker Anton Hofreiter wird trotz des Tönnies-Skandals auch in Zukunft Fleisch essen. Klare Worte an den Chef des Fleischkonzerns hat Hofreiter trotzdem.Bild: imago-imagese / Stefan Weger TSP
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Grünen-Fraktionschef Hofreiter zu Tönnies: "Das ganze System ist kaputt"

Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter spricht im watson-Interview über die Abgründe der Fleischindustrie. Er sagt, warum er Horst Seehofers Reaktion auf die Krawallnacht von Stuttgart für "absurd" hält – und was die Grünen jungen Menschen anbieten, die wegen der Corona-Krise Angst um ihren Job haben.
26.06.2020, 05:0028.09.2020, 12:42
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Fridays-for-Future-Demos und intensive Debatten um den Klimaschutz haben den Grünen lange Erfolge beschert: Rekordergebnisse bei Landtagswahlen von Bayern bis Hamburg und bei der Europawahl. Dann kam die Corona-Krise, die Partei sackte in den Umfragen ab. Wie geht es jetzt weiter für die Grünen – und was passiert mit ihren Plänen zur Bewältigung der Klimakrise?

Wir haben Anton Hofreiter, Grünen-Fraktionschef im Bundestag getroffen, in seinem Büro, um mit ihm zu sprechen. Es ist an diesem Sommermorgen noch fast leer, viele Mitarbeiter sind im Home-Office. Hofreiter spricht über die Lage seiner Partei – und über sein Leib-und-Magen-Thema, das viele Menschen in Deutschland gerade wieder bewegt: die Zustände in der Fleischindustrie.

Hofreiter arbeitet sich seit Jahren an Missständen in Großställen und Schlachthöfen ab, 2016 hat er ein Buch zum Thema veröffentlicht. Wir haben mit ihm darüber gesprochen, was sich nach dem Corona-Ausbruch bei Tönnies am dringendsten ändern muss – und wie er es zusammenbringt, die Fleischindustrie so hart zu kritisieren und trotzdem selbst Fleisch zu essen.

Wir sprachen mit Hofreiter außerdem über die Randale von Stuttgart, über Cem Özdemirs Ausruf "Halten Sie die Fresse" – und darüber, ob junge Menschen vielleicht bald mehr Angst vor Arbeitslosigkeit haben als vor der Klimakatastrophe.

watson: Herr Hofreiter, wenn jetzt Clemens Tönnies, der Chef des gleichnamigen Fleischkonzerns, vor Ihnen sitzen würde – was würden Sie ihm sagen?

Anton Hofreiter: Erstens: Er ist Marktführer und hat damit eine besondere Verantwortung. Wenn Herr Tönnies es ernst meint mit seiner Entschuldigung gegenüber den Menschen in seiner Region, dann erwarte ich, dass er die Kosten, die der Corona-Ausbruch bei Tönnies verursacht, aus seinem riesigen Privatvermögen bezahlt. Und sie nicht dem Unternehmen aufbürdet und dadurch seine Mitarbeiter weiter auspresst. Zweitens: Die Bundesregierung hat eine Mitverantwortung für die Zustände in der industriellen Fleischwirtschaft, weil die Gesetze so sind, wie sie sind. Das ist keine Entschuldigung für Tönnies. Die Zustände in seinem Unternehmen müssen sich grundlegend ändern. Aber darauf werden wir uns nicht verlassen. Wir werden jetzt massiv Druck machen, damit sich die Gesetze so ändern, dass er nur noch weitermachen kann, wenn er sich daran hält.

Was ist das größte Problem in der Fleischwirtschaft, das der Corona-Ausbruch bei Tönnies gezeigt hat?

Vor allem die Behandlung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Schlachthöfen. Und insgesamt ist das ganze System kaputt.

"An jeder Stelle der Kette sieht man bei der industriellen Fleischwirtschaft einen Skandal."
Anton Hofreiter

Wie meinen Sie das?

Die industrielle Fleischwirtschaft funktioniert von Anfang bis Ende über Ausbeutung, vom Futtermittel bis zur Fleischtheke im Supermarkt. In Südamerika werden Kleinbauern vertrieben und teils ermordet, um Flächen für das Soja zu gewinnen. In der Tierhaltung werden Schweine in kürzester Zeit auf Vollspaltenböden gemästet, also auf Betonböden mit einer Rinne, durch die Kot und Urin ablaufen. Bei der Ferkelproduktion – anders kann man das ja nicht nennen – leben die Muttersauen für die Hälfte ihres Lebens in stählernen Käfigen.

Man merkt, Sie sind aufgebracht...

Natürlich. Denn die Landwirte stehen mit dem Rücken zur Wand, versuchen durch Masse, die niedrigen Preise wettzumachen. Und das endet dann bei den Fleischpackungen im Supermarktregal. Auf denen kleben Etiketten mit dem Namen eines "Hofguts", das gar nicht existiert – um dem Verbraucher vorzugaukeln, dass die Tiere auf kleinen Bauernhöfen gehalten werden. An jeder Stelle der Kette sieht man bei der industriellen Fleischwirtschaft einen Skandal.

Was würden die Grünen denn als Erstes tun, damit sich in der Fleischwirtschaft etwas ändert?

Als Erstes müssen dort Werkverträge verboten werden, damit Mitarbeiter in Betrieben wie Tönnies bessere Arbeitsbedingungen haben. Aber wir brauchen an jeder Stelle der Kette Änderungen: Es dürfen keine Futtermittel mehr importiert werden aus Gegenden, aus denen Kleinbauern vertrieben worden sind. Die Landwirte müssen bessere Preise bekommen. Die Bedingungen bei Tiertransporten müssen sich verbessern, die Wege müssen kürzer werden. Und im Supermarkt braucht es eine klare Kennzeichnung der Fleischprodukte. Damit die Leute sehen können, was sie kaufen. Außerdem muss das Kartellrecht geändert werden, es darf nicht mehr die großen Supermarktketten schützen, die sind ja schon mächtig genug.

Sie selbst essen – trotz der Missstände in der Fleischwirtschaft – weiterhin Fleisch. Wie kriegen Sie das mit Ihrem grünen Gewissen zusammen? Oder werden Sie nach dem Fall Tönnies jetzt Vegetarier?

Wir müssen aufpassen, dass wir die anständigen Fleischereien nicht in einen Topf werfen mit den großen Fleischbaronen. Es gibt ja gigantische Unterschiede bei der Tierhaltung. Bio-Fleisch kommt von Tieren, die auf die Weide dürfen, nur regional angebautes Futter bekommen und anders geschlachtet werden. Die Menschen, die das Fleisch verarbeiten, werden nicht ausgebeutet. Man kann also auch in Zukunft noch Fleisch essen. Ich empfehle, genau hinzuschauen, woher es kommt.

Sie machen also einen Bogen um die Fleischtheke im Supermarkt?

Ich schaue genau hin und kaufe nur Bio-Fleisch, von dem ich weiß, wo es herkommt.

Anton Hofreiter im Interview mit watson-Politikredakteur Sebastian Heinrich
Anton Hofreiter im Interview mit watson-Politikredakteur Sebastian Heinrichbild: jonas horstkemper

Das zweite Thema, das viele in diesen Tagen beschäftigt, sind die Krawalle im grün regierten Stuttgart. Wie lassen sich solche Gewaltausbrüche verhindern?

Erstmal ist klar: Ein solches Verhalten ist durch nichts zu entschuldigen. Außerdem deutet sich an, dass es in Stuttgart wohl schon seit Wochen Schwierigkeiten gab, dass sich da seit Wochen etwas aufgeschaukelt hat zwischen jungen Männern und der Polizei. Probleme müssen gelöst und nicht weggedrückt werden. Aber das geht nur vor Ort, in den Kommunen.

"Das war ein populistisches Manöver, wie wir es von Horst Seehofer immer wieder erlebt haben. Und das dieses Mal zum Glück gescheitert ist, er erhebt ja jetzt keine Anzeige."
Anton Hofreiter

Und kann die Politik in Berlin etwas tun?

Wir Grünen fordern regelmäßig, dass die Polizei vernünftig ausgestattet wird, die Bundespolizei wie die Polizei in den Ländern. Die Prävention muss vor Ort laufen.

Bundesinnenminister Horst Seehofer ist nach Stuttgart gefahren, hat seine uneingeschränkte Solidarität mit den Polizisten erklärt – und dann zunächst angekündigt, er werde eine Journalistin der "taz" anzeigen, weil die in ihrer Kolumne Polizisten mit Abfall verglichen hat. Was halten Sie von seiner Reaktion?

Diese Kolumne fand auch ich überhaupt nicht gelungen, ja menschenverachtend. Aber die Vorstellung, dass auch nur einer der jungen Männer in Stuttgart diese Kolumne kannte, ist absurd. Der Innenminister ist nicht nur Dienstherr der Bundespolizei, sondern auch qua Amt Schützer der Pressefreiheit. Und es geht gar nicht, dass er dann eine Journalistin anzeigt – selbst wenn sie Unsägliches schreibt. Das war ein populistisches Manöver, wie wir es von Horst Seehofer immer wieder erlebt haben. Und das dieses Mal zum Glück gescheitert ist, er erhebt ja jetzt keine Anzeige.

Ihr Parteifreund Cem Özdemir ist nach der Randale dadurch aufgefallen, dass er in Stuttgart einem Passanten, der von "Polizeidiktatur" gesprochen hat, gesagt hat: "Halten Sie bitte die Fresse"...

Wenn man es mit pöbelnden Menschen zu tun hat, kann ich schon verstehen, dass einem da mal die Hutschnur platzt. Cem hat sich ja direkt danach für seine Wortwahl entschuldigt. Und der Vorwurf einer Polizeidiktatur bei uns ist eine Beleidigung für alle, die wirklich unter einer Polizeidiktatur leben – wie die Uiguren in China.

Die Grünen haben bis Februar nach und nach Wahlerfolge gefeiert, sind in Umfragen auf Rekordhöhe geschossen – und haben dann in der Corona-Krise wieder verloren. Wie wollen Sie wieder besser bei den Menschen ankommen?

Erstens würde ich jedem in dieser schweren Krise davon abraten, sich zu lange mit Umfragen zu beschäftigen. Und zweitens bin ich positiv überrascht, wie gut die Grünen auch heute dastehen. Wir haben in den vergangenen Wochen das Krisenmanagement der Regierung eng begleitet und waren da auch erfolgreich. Ich hätte zum Beispiel nicht gedacht, dass wir es mit gemeinsamem Druck der Klimabewegung schaffen, die Bundesregierung von einer Kaufprämie für Autos mit Verbrennungsmotor abzubringen. Das zeigt mir, dass sich da seit der Finanzkrise 2008-2009 in der Gesellschaft etwas grundlegend gebessert hat. Da läuft die Politik der Gesellschaft eher hinterher. Und da wir als Grüne bei dem Thema gute Konzepte haben, werden wir auch gut aus dieser Krise herauskommen.

"Dass wir sehr viele junge Wähler haben, hat ja eine Logik: Wenn wir die Klimakrise jetzt nicht in den Griff bekommen, dann werden junge Menschen noch in ihrem eigenen Leben aufs Schlimmste betroffen sein."
Anton Hofreiter

Analysen zeigen, dass die Grünen vor allem bei jüngeren Wählern einen guten Stand haben: Vor Kurzem hat eine Umfrage ergeben, dass 42 Prozent der Erstwähler grün wählen würden. Reicht es, eine Jugendpartei zu sehen, um in Deutschland mitzuregieren?

Dass wir sehr viele junge Wähler haben, hat ja eine Logik: Wenn wir die Klimakrise jetzt nicht in den Griff bekommen, dann werden junge Menschen noch in ihrem eigenen Leben aufs Schlimmste betroffen sein. Deswegen wird der Druck auch nicht nachlassen. Die meisten jungen Menschen haben begriffen, dass es da nicht mehr nur um die nächsten Generationen geht, sondern um sie persönlich. Aber es gibt ja auch viele ältere Menschen, die sich darum sorgen, ob es ihren Enkeln noch gutgeht. Wir machen allen Generationen ein Angebot.

Durch die Corona-Krise könnten bald aber auch viel mehr junge Menschen als bisher Probleme haben, einen Ausbildungsplatz oder einen Job zu finden. Und wenn es mit dem Geld knapp wird am Ende des Monats, sagen vielleicht viele: Ich habe ganz andere Probleme als die Klimakrise...

Aus der Krise hilft nur Grün. Wir müssen jetzt dafür sorgen, dass die Jugend eine Zukunft hat. Am Ende werden wir Arbeitsplätze nur erhalten und weitere schaffen können, wenn wir auf moderne Technologie setzen. Das Festhalten am Alten wird auch die Jobs nicht retten. Das hat man in der Autoindustrie ja schon vor der Krise gesehen. Die deutschen Hersteller haben zu lange auf den Verbrennungsmotor gesetzt. Und hinter vorgehaltener Hand geben inzwischen auch viele bei den Herstellern zu, dass sie schon viel früher auf moderne Batterietechnologie hätten setzen sollen. Oder schauen Sie auf die Stahlindustrie: Wenn wir da in Europa die Jobs retten wollen, geht das nur mit CO2-neutralem Stahl, der mit grünem Wasserstoff hergestellt wird. Da könnten wir wieder Marktführer werden.

"Wenn der Staat nicht viel mehr Geld in den ökologischen Umbau steckt, dann ist das Gift für die wirtschaftliche Entwicklung – und damit auch für die Jobs junger Leute."
Anton Hofreiter

Reicht das, was die Bundesregierung jetzt mit ihrem gigantischen Konjunkturpaket auf den Weg gebracht hat, aus, um diesen ökologischen Wandel voranzutreiben?

Nein, das reicht bei Weitem nicht aus. Wir brauchen klare Vorgaben im Ordnungsrecht: etwa einen Mindestpreis beim europäischen Emissionshandel und verbindliche Quoten für CO2-neutralen Stahl. Und ein Konjunkturpaket allein reicht auch nicht aus, um die Industrie ökologisch umzubauen: Wir brauchen dauerhaft mehr Zukunftsinvestitionen. Wir Grüne haben vorgeschlagen, über zehn Jahre je 50 Milliarden Euro zu investieren. So viel Geld ist nötig, um einen solchen Umbau zu schaffen. Weil nur so die Unternehmen genug Vertrauen haben, damit sie jetzt auch wirklich Geld in die Hand nehmen: die Autoindustrie, die Zementindustrie, die ganze Energiewirtschaft. Diese langfristige Perspektive fehlt mir. Wenn der Staat nicht viel mehr Geld in den ökologischen Umbau steckt, dann ist das Gift für die wirtschaftliche Entwicklung – und damit auch für die Jobs junger Leute.

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