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Warum ausgerechnet Großbritannien Vorreiter in der Klimapolitik ist

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Boris Johnson ist nicht unbedingt beliebt bei der Klimaschutzbewegung – dabei steht Großbritannien besser da als viele andere Länder. Bild: imago images / Vudi Xhymshiti
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Warum ausgerechnet Großbritannien Vorreiter in der Klimapolitik ist

22.11.2020, 16:16
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Boris Johnson hat die Revolution ausgerufen. Genauer und in seinen Worten gesagt, die "grüne industrielle Revolution". Ab 2030 darf in Großbritannien kein Auto mit Verbrennungsmotor mehr neu zugelassen werden, neue Pkws mit Hybridantrieb dürfen ab 2035 nicht mehr auf den Markt. Der britische Premierminister Johnson kündigte das am vergangenen Mittwoch an. Die – zumindest aus deutscher Perspektive – radikale Maßnahme ist Teil eines Zehn-Punkte-Plans für strengeren Klimaschutz.

Dass ausgerechnet Boris Johnson einen so ambitionierten Klimaschutzplan verkündet – dieser konservative Verfechter des britischen EU-Austritts, den in Deutschland manche Politiker und Journalisten schon als "Mini-Trump" bezeichnet haben – mag viele überraschen. Vor allem, weil Johnson selbst noch 2016 in seiner Kolumne für die Zeitung "The Telegraph" die Furcht vor steigenden Temperaturen durch die Erderhitzung als "primitive Angst" bezeichnet hatte.

Aber es liegt längst nicht nur an Johnson. Großbritannien spielt seit Jahren eine internationale Vorreiterrolle im Kampf gegen den Klimawandel.

Das Land, in dem Ende des 18. Jahrhunderts die industrielle Revolution begann – und damit die Verfeuerung fossiler Brennstoffe, die hauptverantwortlich ist für den menschengemachten Klimawandel – will jetzt auch bei der grünen Revolution ganz vorne dabei sein.

Felix Creutzig, Leiter der Arbeitsgruppe Landnutzung, Infrastruktur und Transport beim Klimaschutz-Thinktank Mercator Research Institute on Global Commons and Climate Change (MCC), bescheinigt Großbritannien gegenüber watson, dass es beim Klimaschutz "viel weiter" sei als Deutschland.

Mit Blick auf Premier Johnson, der mit der konservativen Tory-Partei die Regierungsmehrheit im britischen Unterhaus stellt, sagt Creutzig:

"In Großbritannien ist Klimaschutz keine parteipolitische, sondern eine parteiübergreifende Perspektive. Gerade konservativen Regierungen sollte die Bewahrung unseres Planeten am Herzen liegen."

Was im britischen Plan für die "grüne industrielle Revolution" steht

Premier Johnson hat am Mittwoch einen Plan aus zehn Punkten vorgestellt – mit Zielen, die Großbritannien bis 2030 beim Klimaschutz erreichen will. Dazu gehören:

  • Ein Verbot für Neuzulassungen von Diesel- und Benzin-Fahrzeugen bis 2030. Fahrzeuge mit Hybridantrieb, also mit einem Elektro- und einem Verbrennungsmotor, dürfen noch bis 2035 zugelassen werden. 2,8 Milliarden Pfund will der Staat für Laudesäulen, Kaufprämien für E-Autos und die Batterieproduktion in Großbritannien ausgeben.
  • Die Windkraft soll massiv ausgebaut werden – auf eine Kapazität von 40 Gigawatt. Das wäre viermal so viel wie bisher – und 10 Gigawatt mehr, als die britische Regierung bisher geplant hatte. "Das würde ausreichen, um die Hälfte des aktuellen Stromverbrauchs im Land zu decken", schreibt Simon Evans, Redakteur beim Energie-Portal "Carbon Brief", dazu auf Twitter.
  • Die Produktion von Wasserstoff soll massiv hochgefahren werden – auf eine Kapazität von fünf Gigawatt. Dasselbe Ziel verfolgt Deutschland mit seiner nationalen Wasserstoffstrategie.
  • Großbritannien soll weltweiter Technologieführer beim Speichern von CO2 aus der Atmosphäre werden: Bis 2030 sollen mit der sogenannten CCS-Technologie insgesamt 10 Megatonnen Treibhausgas gespeichert werden.
  • Die Heizungen britischer Wohnungen sollen deutlich klimafreundlicher gemacht werden. Dahinter steckt ein Problem, das fast jeder kennt, der schon einmal nach Großbritannien gereist ist oder dort gelebt hat: Viele Häuser sind schlecht isoliert und individuell mit Gasboilern beheizt. Die Regierung will den Ausbau von Wärmepumpen mit viel Geld subventionieren.
  • Auch Atomkraft soll ein Teil der britischen "grünen Revolution" sein: 525 Millionen Pfund will die Regierung dafür ausgeben, um die Entwicklung größerer und kleinerer neuer Kernkraft-Reaktoren zu erforschen.
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Elektrische Zukunft: Ab 2030 dürfen keine Autos mit Verbrennungsmotor mehr in Großbritannien zugelassen werden. Bild: imago images / Boarding_Now

Seit 2008 gilt in Großbritannien ein strenges Klimaschutzgesetz

Schon im Jahr 2008 ist in Großbritannien der "Climate Change Act" verabschiedet worden: Ein Gesetz, das die Regierung ursprünglich dazu verpflichtete, bis 2050 80 Prozent der Treibhausgasemissionen einzusparen. Später wurde es verschärft: Inzwischen schreibt das Gesetz vor, bis 2050 die Klimaneutralität zu erreichen – also nicht mehr Treibhausgas in die Atmosphäre auszustoßen, als auf und unter der Erde gespeichert wird.

Großbritannien war 2008 laut der britischen Klimaschutz-NGO Energy and Climate Intelligence Unit (ECIU) der erste Staat der Welt, der sich selbst gesetzlich zur Reduktion von Treibhausgasen verpflichtet hat. Eine überwältigende Mehrheit von 463 zu 3 Abgeordneten im Unterhaus verabschiedete den "Climate Change Act". Im Mai 2019 rief das britische Unterhaus den Klimanotstand aus – laut dem Portal "Klimareporter" als erstes nationales Parlament der Welt.

Der "Climate Change Act" unterteilt die 25 Jahre von 2008 bis 2032 in Fünfjahresperioden. In jeder dieser Fünfjahresperioden darf ein jeweils festgelegtes CO2-Budget ausgestoßen werden, Periode für Periode wird dieses Budget kleiner: von 3,018 Megatonnen CO2-Äquivalent (MtCO2e) von 2008 bis 2012 bis zu 1,765 MtCO2e zwischen 2028 und 2032.

Wie Großbritannien klimaneutral werden soll

Netto-Null, also die Klimaneutralität, will die britische Regierung bis 2050 mit Maßnahmen auf mehreren Feldern erreichen: von deutlich höherer Energieeffizienz bis zu Klimaschutz-Verpflichtungen für Unternehmen. Vor allem aber hat das Land jetzt schon eine bemerkenswerte Energiewende geschafft.

2008 stammten noch fast 34 Prozent des elektrischen Stroms in Großbritannien aus Kohlekraftwerken. 2018 waren es nur noch elf Prozent, 2019 ist der Wert in den einstelligen Bereich gesunken. In Deutschland machte Kohlestrom 2019 noch knapp 20 Prozent des Energiemixes aus. Im Corona-Jahr 2020 ist Großbritannien sogar erstmals ganze zwei Monate lang gänzlich ohne Kohlestrom ausgekommen. Spätestens 2025 soll der Kohleausstieg erreicht sein.

BERGHEIM, GERMANY - FEBRUARY 16: Electricity pylons and wind turbines stand beside the RWE Niederaussem coal-fired power plant while Steam rises from cooling towers on February 16, 2016 near Bergheim, ...
Von Kohle zu Wind: Großbritannien ist bei der Energiewende weiter als Deutschland. Bild: Getty Images Europe / Volker Hartmann

Laut dem Portal "Energiezukunft" (hinter dem der Ökostromanbieter Naturstrom AG steckt) beträgt der CO2-Ausstoß in Großbritannien nur noch 207 Gramm pro Kilowattstunde – in Deutschland sind es noch 474 Gramm.

Ein wichtiges Instrument der britischen Klimapolitik ist die CO2-Bepreisung. Größere Unternehmen sind in Großbritannien verpflichtet, Teil des EU-Emissionszertifikatehandels EU ETS zu sein. Nach dem endgültigen EU-Austritt – also dem Ende der Brexit-Übergangsfrist zum 31. Dezember 2020 – will Großbritannien einen nationalen CO2-Zertifikate-Handel aufbauen. Zusätzlich gilt für alle Energieerzeuger ein CO2-Preis von 18 Pfund pro Tonne – und eine Klimasteuer auf Benzin, die an der Zapfsäule fällig wird.

Damit das Land weiter vorankommt auf dem Weg zur Klimaneutralität, gibt es seit 2008 das Committee on Climate Change (CCC): eine unabhängige Kommission, die Fortschritte beim CO2-Sparen laufend bewertet – und großen Einfluss auf die Politik der Regierung hat.

Fazit: Die Briten gehen voran – der härteste Teil kommt aber noch

Die gute Nachricht: Großbritannien hat für die ersten zwei Fünfjahresperioden zwischen 2008 und 2017 schon seine CO2-Reduktionsziele erreicht – und ist auf dem Weg, auch das Ziel von 2018 bis 2022 zu erreichen.

Der deutsche Forscher Felix Creutzig zieht ein durchaus positives Fazit zur britischen Klimaschutzpolitik. Creutzig wörtlich:

"Großbritannien ist tatsächlich Vorreiter im Klimaschutz. Der erste Erfolg ist die rasche Reduktion der Kohleverstromung in den letzten Jahren, hauptsächlich bedingt durch eine Mindeststeuer auf CO2 von Kohle. Der zweite Erfolg ist das Verbot, Autos mit Verbrennungsmotor ab 2030 zu verkaufen. Das ist international die ehrgeizigste Maßnahme im Verkehrssektor. Diese Ankündigung bedingt, dass sich der Markt schneller in Richtung Elektromobilität bewegen wird. Auch die Absicht, Fahrradfahren und zu Fuß gehen ins Zentrum nachhaltiger Mobilität zu rücken, ist bemerkenswert."

Die schlechte Nachricht: Der schwerste Teil des Wegs liegt noch vor Großbritannien. Denn selbst mit den am Mittwoch angekündigten Maßnahmen schafft es das Land voraussichtlich noch nicht, seine CO2-Reduktionsziele für die Zeiträume von 2023 bis 2027 und von 2028 bis 2032 zu erreichen. "Laut den letzten Berechnungen der Regierung, wächst der Unterschied zwischen dem vorhergesagten Ausstoß und dem Zielwert weiter", schreibt der britische Klima-Journalist Simon Evans auf Twitter.

Der deutsche Forscher Creutzig sieht das ähnlich:

"Die Maßnahmen sind substantiell, wenn auch nicht ausreichend, um das 1.5 °C-Ziel zu erreichen (das Ziel des Pariser Klimaschutzabkommens, die Erderhitzung auf 1,5 Grad Celsius zu begrenzen, Anmerkung der Redaktion). Die Maßnahmen werden ungefähr 55 % des Reduktionsziels Großbritanniens für 2032 entsprechen."

Um die britischen Klimaschutzziele zu erreichen, werden Premier Boris Johnson – und seine Nachfolger – also noch einiges mehr ankündigen müssen als den Zulassungsstopp für Autos mit Verbrennungsmotoren ab 2030.

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