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Krisenchat-Gründer über psychische Notfälle bei jungen Menschen während Corona

Wegen der Corona-Krise haben sich die psychischen Leiden bei vielen jungen Menschen verstärkt. (Symbolbild)
Wegen der Corona-Krise haben sich die psychischen Leiden bei vielen jungen Menschen verstärkt. (Symbolbild)Bild: iStockphoto / Chinnapong
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"Per Chat kann man lautlos laut sein": Junger Gründer über psychische Notfälle bei jungen Menschen während Corona

25.02.2021, 21:1326.02.2021, 09:20
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Die Corona-Krise wird zunehmend zu einer psychischen Krise: Vor allem junge Menschen leiden gerade besonders unter den Auswirkungen des Lockdown, wie Studien nahelegen. Laut Medizinern des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE) zeigt sich mittlerweile fast jedes dritte Kind psychisch auffällig. Und im Interview mit watson sagte der Jugendforscher Klaus Hurrelmann, Leiter der Studie "Junge Deutsche 2021", dass Menschen zwischen 15 und 25 die negativen Konsequenzen des Lockdown am deutlichsten zu spüren bekommen, "wenn nicht gesundheitlich, so zumindest sozial, psychisch und in Bezug auf Zukunftsfragen".

Um junge Menschen in psychischen Notlagen aufzufangen, hat Kai Lanz bereits im ersten Lockdown den Krisenchat gegründet. Seit fast einem Jahr bietet der 19-Jährige mit seiner Plattform eine Anlaufstelle für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene bis 25, die hier ihre Ängste und Sorgen per Chat mit Ehrenamtlichen aus den Bereichen Psychologie, Psychotherapie oder Sozialpädagogik teilen können.

Und das ist auch bitter nötig: Denn die Anfragen an den Krisenchat steigen monatlich, wie Lanz im Interview mit watson berichtet. Wir haben mit ihm gesprochen über die psychischen Auswirkungen der Corona-Krise, warum das Chat-Format für junge Leute besonders wichtig ist und warum sein Projekt nicht öffentlich gefördert wird.

"Psychische Probleme bei Kindern und Jugendlichen waren schon lange vor Corona ein großes Thema."

watson: Du hast während der ersten pandemischen Welle gemeinsam mit Freunden den Krisenchat gegründet. Was hat dich dazu bewogen?

Kai Lanz: Wir haben anhand von Berichten aus anderen Ländern wie China bereits recht früh beobachtet, wie sich der Lockdown psychisch auf junge Menschen auswirkt. Vor allem, wenn die Schulen sowie Sportvereine schließen und man dadurch viel zu Hause ist, steigt das Risiko psychischer Leiden. Auch merken wir einen deutlichen Anstieg von Fällen häuslicher Gewalt, die vor allem für Kinder und Jugendliche eine Gefahr darstellen. Um diesen jungen Leuten zu helfen, haben wir den Krisenchat ins Leben gerufen.

Warum eigentlich das Format Chat?

Es ist vor allem zeitgemäß. Junge Menschen nutzen eben häufiger Chats, um zu kommunizieren, anstatt anzurufen. Erschwerend kommt hinzu, dass man zu Hause eben nicht immer telefonieren kann, weil man vielleicht keinen Raum hat, in den man sich in Ruhe und Sicherheit zurückziehen kann. Per Chat kann man auch lautlos laut sein.

Gibt es diese Probleme erst seit Beginn der Pandemie? Wie ging es jungen Menschen hierzulande davor?

Psychische Probleme bei Kindern und Jugendlichen waren schon lange vor Corona ein großes Thema. Für sie gibt es eigentlich kaum Angebote in Krisensituationen. Laut der Bundespsychotherapeutenkammer (BPTK) sind 18 Prozent der unter 25-Jährigen von psychischen Belastungen betroffen. Erste Studien zeigen, dass diese Lage sich durch die Pandemie noch weiter verschärft hat.

"Besonders auffällig ist: Seit Januar werden immer mehr Fälle von Kindesmissbrauch gemeldet."

Bedeutet das, dass die psychische Belastung nach der Pandemie wieder abnehmen könnte?

Nicht unbedingt, die Probleme verschwinden ja nicht einfach. Auch ohne Corona würde es vielen jungen Menschen nicht super gehen. Und die Auswirkungen dieser Krise können langfristig sein und nicht mit einer einzigen, punktuellen Intervention wie einem Krisenchat gelöst werden.

Ihr habt seit der Gründung des Krisenchats insgesamt etwa 15.000 Beratungen durchgeführt. Merkst du da einen Unterschied zwischen der ersten und zweiten Welle?

Während des ersten Lockdowns war unser Angebot noch nicht so bekannt. Wir merken allerdings, dass von Monat zu Monat immer mehr Anfragen reinkommen. Besonders auffällig ist: Seit Januar werden immer mehr Fälle von Kindesmissbrauch gemeldet. Dafür haben wir ein spezielles Team mit erfahrenen Experten aufgestellt, die sich ausschließlich um Kindeswohlgefährdung kümmern.

"Etwa ein Fünftel aller jungen Leute, die sich an uns wenden, spielen mit dem Gedanken, sich das Leben zu nehmen."

Wer sind denn die Menschen, die sich aktuell an euch wenden? Welchen Hintergrund haben sie?

Das sind alle möglichen jungen Leute. Die meisten sind allerdings eher weiblich, weil Jungen und Männer sich weniger trauen, über ihre Gefühle zu sprechen und glauben, sie müssten allein mit ihren Problemen fertig werden. Am häufigsten schreiben uns gerade Jugendliche zwischen 12 und 18 Jahren, viele von ihnen machen eine Ausbildung, einige haben einen Migrationshintergrund. Was übrigens auffällig ist: Über 50 Prozent der Personen, die sich an den Krisenchat wenden, haben noch nie zuvor Hilfe gesucht. Das zeigt, wie hoch die Dunkelziffer bei psychischer Belastung ist.

Über welche Themen sprechen die Menschen denn am häufigsten mit euch?

An erster Stelle stehen tatsächlich Suizidgedanken: Etwa ein Fünftel aller jungen Leute, die sich an uns wenden, spielen mit dem Gedanken, sich das Leben zu nehmen. Viele schreiben uns auch wegen depressiver Symptome, selbstverletzendem Verhalten, Einsamkeit oder Liebeskummer. Ein großes Problem sind auch Zukunftsängste: Das zeigt eine Umfrage unter 500 Schülern und Schülerinnen, die wir im Sommer durchgeführt haben. 70 Prozent von ihnen haben mittlere bis große Angst davor, dass sie in der Schule nicht mehr mitkommen wegen der Pandemie.

"Da sagen Eltern zu ihren Kindern oft: Wir hatten ja auch Stress in der Schule damals, das kennen wir ja."

Bei "Markus Lanz" hast du letztens darüber gesprochen, dass euer Projekt keine öffentlichen Fördergelder erhält und ihr alles ehrenamtlich macht. Habt ihr denn mittlerweile Unterstützung vom Familienministerium bekommen?

Leider noch nicht.

Was ist denn die Begründung dafür?

Vonseiten des Familienministeriums heißt es, dass es schon genügend Krisenangebote für junge Menschen gäbe und unser Projekt praktisch nicht in die Beratungslandschaft passen würde. Das deckt sich allerdings nicht mit unseren Erfahrungen.

Wie kann es denn sein, dass das Familienministerium dieses Problem nicht auf dem Schirm hat?

Ich vermute, dass der große Leidensdruck junger Menschen in der Politik einfach nicht ankommt. Wir sind nun allerdings mit einigen privaten Förderern im Gespräch. Den Krisenchat wird es auf jeden Fall auch langfristig geben.

Warum bekommt das Thema psychische Gesundheit generell so wenig Aufmerksamkeit?

Ich glaube, es ist immer noch ein Tabu-Thema. Viele Menschen trauen sich nicht, über ihre psychischen Leiden zu sprechen, und das wirkt sich gesellschaftlich aus. Zwar hat sich das in den vergangenen Jahren gebessert und gerade junge Menschen gehen offener mit dem Thema mentaler Gesundheit um als beispielsweise Menschen ab 40. Gerade ältere Leute zeigen sich da sehr verschlossen.

Kai Lanz, 19, hat den Krisenchat gegründet.
Kai Lanz, 19, hat den Krisenchat gegründet. null / Max Brenner

Warum, glaubst du, ist das so?

Weil sich viele Menschen, gerade ältere, nicht verletzlich geben wollen. Viele Sachen werden auch einfach heruntergespielt, das passiert zum Beispiel häufig bei Mobbing-Vorfällen. Da sagen Eltern zu ihren Kindern oft: Wir hatten ja auch Stress in der Schule damals, das kennen wir ja. Und viele Menschen wissen es einfach nicht besser und können nicht mit psychischen Problemen umgehen, weil sie es nicht gelernt haben.

Was sollten Regierende in Bund und Ländern tun, um jungen Menschen in psychischen Notlagen zu helfen?

Das hat meiner Meinung nach viel mit der richtigen Kommunikation zu tun. Die Regierenden müssen versuchen, junge Menschen dort zu erreichen, wo sie sich auch aufhalten, und zwar mit der Sprache, die sie sprechen. Momentan sehe ich zwei Extreme: Entweder die super-starren Angebote auf uralten Websites, bei denen ich mich manchmal frage: Welcher junge Mensch soll denn da drauf gehen? Oder aber der Versuch, mit gekünstelter Jugendsprache auf junge Leute zuzugehen, was manchmal einfach abschreckend wirkt. Am wichtigsten finde ich es allerdings, einfach normal mit der Zielgruppe zu reden, anstatt nur über sie zu sprechen.

Das sagt das Familienministerium
Watson hat beim Familienministerium nachgefragt, warum Krisenchat nicht öffentlich gefördert wird. Eine Sprecherin begründete die Entscheidung vor allem mit Datenschutz-Bedenken. "Grundsätzlich begrüßen wir die niedrigschwellige Ansprache von Kindern und Jugendlichen bei krisenchat.de", betonte die Sprecherin. Das Angebot laufe aber über den Messenger "WhatsApp", dessen Nutzungsbedingungen die Berliner Datenschutzbehörde in Bezug auf Online-Beratungsangebote als kritisch bewertet habe.

Zudem sei für das Ministerium nicht ausreichend deutlich, wie das Angebot mit kommunalen Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe vernetzt sei. "Diese Anbindung ist aus Sicht des BMFSFJ gerade bei schwerwiegenden Krisen äußerst wichtig, da gegebenenfalls weiterführende Maßnahmen der Kinder- und Jugendhilfe vor Ort eingeleitet oder umgesetzt werden müssen", so die Sprecherin weiter.

Darüber hinaus benötige das Familienministerium, um sich für eine Förderung zu entscheiden, mehr Klarheit über das Schulungskonzept der Beraterinnen und Berater sowie als Voraussetzung für eine ehrenamtliche Mitarbeit ein erweitertes Führungszeugnis. Das BMFSFJ betont, es sei offen für neue Gespräche mit dem Dienst über diese Punkte.
Fühlst du dich verzweifelt?
Telefonseelsorge: Unter 0800 – 111 0 111 oder 0800 – 111 0 222 erreichst du rund um die Uhr Mitarbeiter:innen, mit denen du sprechen kannst. Auch ein Gespräch via Chat oder E-Mail ist möglich.

Kinder- und Jugendtelefon: Der Verein "Nummer gegen Kummer" kümmert sich vor allem um Kinder und Jugendliche. Erreichbar montags bis samstags von 14 bis 20 Uhr unter der Rufnummer 116 111.

Krisenchat: Bei Krisenchat kannst du dich per Whatsapp rund um die Uhr an ehrenamtliche Berater:innen wenden. Das Angebot richtet sich an Menschen bis 25 Jahre.
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