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Interview

"Ich hatte noch nie so viele Anfragen wie 2020": Paartherapeutin zur Corona-Krise

Shot of a young woman looking despondent after a fight with her boyfriend
In einer guten Beziehung muss man die Aufgabenverteilung aushandeln, sagt Birgit Neumann-Bieneck. (Sybolbild)Bild: E+ / PeopleImages
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"Ich hatte noch nie so viele Paaranfragen wie im letzten Jahr": Paartherapeutin zur Corona-Krise

12.03.2021, 20:1313.03.2021, 09:22
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Das Corona-Jahr 2020 war für Paare besonders schwer. Das Leben zwischen Homeoffice und Kinderbetreuung bietet viele Anlässe für Beziehungskrisen.

Zudem wurde viel darüber diskutiert, inwieweit der Lockdown dazu führt, dass wir zu einer traditionellen Rollenverteilung zurückkehren – der Mann arbeitet und die Frau kümmert sich um die Kinder.

Birgit Neumann-Bieneck ist Paartherapeutin in Wiesbaden und sagt, sie habe noch nie so viele Therapieanfragen erhalten wie im vergangenen Jahr. Die 53-Jährige ist selber Mutter und erklärt: "Es geht immer um das Aushandeln in Beziehungen". Man solle Abmachungen über die Aufgabenverteilung treffen, so Neumann-Bieneck, ob diese nun dem traditionellen Schema entsprechen oder nicht.

Mit watson unterhält sie sich über die Vorteile von Rollenklischees und eine Retraditionalisierung junger Menschen in Beziehungen.

"Wir sind oft und viel für unsere Rechte eingestanden: für Emanzipation."

Watson: Wer möchte eigentlich lieber in einer festen Beziehung sein: Männer oder Frauen?

Ich glaube nicht, dass das geschlechtsabhängig ist, sondern ganz individuell. Es geht darum, welche Beziehungswünsche der Mensch hat. Dieses Beziehungsklischee, dass Frauen lieber in Beziehungen sind als Männer, gibt es nicht – das ist sehr unterschiedlich.

Haben es Frauen im Dating-Leben einfacher, weil sie häufiger von Männern angesprochen werden?

Es kommt darauf an, wonach Frauen suchen. Ich glaube, wenn sie eine feste und ernsthafte Beziehung wollen, ist es eher schwieriger. Wenn sie aber einfach nur Kontakt oder Sex haben wollen, dann haben sie natürlich ein breiteres Feld. Außerdem haben es Frauen ab Ende 40 auf dem Onlinemarkt für feste Beziehungen schwerer.

Woran liegt das?

Daran, dass bei älteren Männern immer noch der Trend gilt, jüngere Frauen interessant zu finden. Das schränkt sie dann etwas ein. Oft gab es auch Beziehungen im Vorfeld, vielleicht sind auch Kinder im Haushalt – da sind die Frauen meistens ein bisschen benachteiligt.

Wie ist das beim Online-Dating? Müssen auch da Männer den ersten Schritt machen?

Das hat sich geändert, bei jüngeren Leuten hat das keine Relevanz mehr. Ich glaube schon, dass es noch Männer gibt, die diesen Jagdtrieb haben und die den ersten Schritt machen wollen. Aber grundsätzlich hat sich das ein Stück aufgelöst, so emanzipiert sind wir alle mittlerweile. Ich glaube, es gibt auch Frauen, die angesprochen werden wollen, aber das kommt immer seltener vor.

Sie sagen, das hat sich mit der jüngeren Generation verändert. Was gibt es denn noch für Unterschiede zwischen älteren und jüngeren Menschen?

Das müssten Sie ja eher wissen, denn Sie sind da näher dran. Ich sehe das nur indirekt als Therapeutin. Gerade in meiner Generation waren Männer und Frauen sehr kämpferisch. Wir sind oft und viel für unsere Rechte eingestanden: für Emanzipation. Sie sehen es an meinem Nachnamen. Da gibt es viele Leute, die ihren eigenen Nachnamen behalten haben, oder die Doppelnamen haben. Sowas hat sich in der nächsten Generation aufgelöst.

Woran merken Sie das?

Viele Frauen und Männer fallen in ein eher altes Rollenverhalten, denn man muss sich auch immer abgrenzen von der älteren Generation. Ich kann das nicht empirisch belegen, aber aus meiner Praxis weiß ich, einige jüngere Frauen haben die Idee, klassisch zu heiraten und Kinder zu bekommen. Die haben oft eine großartige berufliche Ausbildung und wollen trotzdem Teilzeit arbeiten. Das macht mich schon nachdenklich. Aber jeder muss das tun, was für ihn gut ist.

Birgit Neumann-Bieneck ist Paartherapeutin und Mutter.
Birgit Neumann-Bieneck ist Paartherapeutin und Mutter.

Laut der Shell-Studie von 2019 wollen fast 70 Prozent der Befragten, Frauen sowie Männer, dass die Frau beim ersten Kind in Teilzeit geht. Das entspricht einem recht traditionellen Rollendenken. Wie konservativ sind junge Menschen heutzutage in ihren Partnerschaften?

Tradierte Rollen geben Sicherheit. In unsicheren Zeiten – und zurzeit ist alles unberechenbar – verändert sich eine Erlebnisgesellschaft ganz schnell und es werden Dinge möglich, die wir nie erwartet haben. Da neigen wir dazu, zu Konzepten zurückzukehren, die uns Halt und Raum geben.

"Man muss mit dem Klischeedenken aufhören. Es geht um Absprachen beim Zusammenleben"

Können solche Konzepte also auch Vorteile haben?

Tradierte Rollen sind nicht nur schlecht, sondern geben auch Schutz und Sicherheit. Viele Frauen haben erlebt, dass ihre Mütter einen großen Preis für Gleichberechtigung gezahlt haben und wollen es anders haben. Es ist auch das Suchen nach einem Rahmen und neuen Konstrukten. In unserer Zeit gibt es kaum noch gesellschaftliche Vorgaben im Vergleich zu den fünfziger Jahren beispielsweise.

Und wie definieren sich die Väter?

Jeder muss das für sich selbst definieren. Ich merke auch, dass Männer Erziehungszeit nehmen. Die haben ihren Vater in der Erziehung kaum erlebt und möchten ein präsenterer Vater sein und sich einbringen.

Sie sagen, Männer bringen sich häufiger bei der Kindererziehung ein. Wie ist das denn bei anderen, klassisch weiblichen Aufgaben wie dem Haushalt? Spätestens, wenn Paare zusammenziehen, bleibt der Großteil der Hausarbeit oft wieder bei den Frauen hängen.

Das ist vielleicht nur ein Klischee. Ich habe zwei Kinder, einen Jungen und ein Mädchen, die sind 14 und 16 Jahre alt. Mein Sohn macht genau die gleichen Aufgaben wie ich und meine Tochter. Er muss sich auch an den Hausarbeiten beteiligen. Ihm muss bewusst sein, dass jeder seinen Anteil bringen soll. Das ist mir schon immer wichtig gewesen. Mein Sohn kann wahrscheinlich besser kochen als meine Tochter, weil es ihm Spaß macht.

Bei vielen Frauen und Männern funktioniert das aber nicht. Was kann man dagegen tun?

Man muss mit dem Klischeedenken aufhören. Es geht um Absprachen beim Zusammenleben. Ein Ordnungsverständnis ist grundsätzlich verschieden, darüber muss man eine Verhandlung führen und absprechen, wer wofür zuständig ist. Es kann ja auch so sein, dass die Frau eher aufräumt und der Mann Einkäufe macht oder sich um die Autos kümmert. Es muss gar nicht alles aufgeteilt werden, sondern es geht darum, dass beide das Gefühl haben, sich am Zusammenleben und am Miteinander zu beteiligen.

Oft bekommen Männer die typisch männlichen Aufgaben zugeteilt, wie den Rasen mähen und die Autos reparieren und Frauen dann die typisch weiblichen, wie putzen oder kochen.

Die Frage ist, ob es zugeteilt oder ausgehandelt wurde. Wenn es mir leichter fällt, einkaufen zu gehen und zu überblicken, was wir essen und kochen, weil es mir Spaß macht, und meinem Partner es viel leichter fällt, zu schauen, ob in den Autos Öl ist – ich bleibe jetzt bewusst im Klischee – warum sollte man dann plötzlich etwas künstlich erzeugen. Es gibt Frauen, die mähen total gerne Rasen und der Mann kümmert sich dafür um die Wäsche. Es geht also nicht nur um Stereotype, sondern um ein Aushandeln.

"Der Mensch muss die Freiheit haben, das zu tun, was er möchte"

In einem "Spiegel"-Interview sagt der Soziologe Martin Schröder, dass Partner glücklicher sind, wenn sie traditionelle Rollenmuster leben. Warum ist das so?

Da müssen Sie den Herrn Schröder fragen, ich weiß nicht, wie er auf die Idee kommt. Was ich erlebe, zeigt: Das ist keine Prämisse. Es kommt immer darauf an, wie sich Partner miteinander auseinandersetzen. In manchen Paaren ist die Frau erfolgreich und verdient viel Geld und der Mann bleibt zu Hause, kümmert sich um die Kinder und hat da auch Spaß dran. Wichtig in unserer Gesellschaft ist, dass wir alles würdigen. Der Mensch muss die Freiheit haben, das zu tun, was er möchte.

Karrierefrauen müssen sich häufig nicht nur um ihre Arbeit, sondern auch die Kinder kümmern. Wirkt sich diese Doppelbelastung auf die Beziehung aus?

Ich glaube schon. Die Idee meiner Generation ist, dass man alles gut können muss. Man muss Karriere machen, eine gute Mutter sein, eine fantastische Partnerin und dann ist der Haushalt auch noch on top – das funktioniert natürlich nicht. Es hat alles immer zwei Seiten und der Preis, den wir dafür zahlen, ist hoch.

Wie nehmen Männer das wahr?

Ich glaube, dass diese Doppelbelastung ein großes Thema ist, aber nicht nur für Frauen. Ich erlebe auch Männer, die in so einer Doppelbelastung gefangen sind. Beide Partner arbeiten, teilen die Kinderbetreuung auf und fallen dann todmüde ins Bett. Man fragt sich, wann man mal einen Moment für sich hat. Das ist ein Stück weit dieser Gesellschaft geschuldet, die ein unglaublich hohes Tempo hat. Von uns wird viel gefordert in allen möglichen Situationen und Rollen. Wir gehen immer an die Forderungsgrenze.

Gibt es da Lebensmodelle, die sich bewährt haben?

Wir müssen mehr auf individuelle Lösungen schauen, denn es gibt kein Modell, das für alle funktioniert, auch die Frage nach der Finanzierung des Lebensmodells ist eine ganz wichtige. Wenn man die hohen Lebenskosten von Familien sieht, stellt sich gar nicht mehr die Frage, wer bleibt zu Hause. Es ist die Regel, dass beide arbeiten müssen, und zwar nicht, weil sie sich verwirklichen wollen. Wenn die Frau beispielsweise Verkäuferin ist und er Koch, wird der Verdienst von einem Partner allein nicht ausreichen. Man kann nicht immer von Spitzenverdienern ausgehen, das sind die Wenigsten.

Zusätzlich zu einer möglichen finanziellen Anspannung ist noch die Corona-Krise hinzugekommen. Wie hat sich die Corona-Krise auf Partnerschaften ausgewirkt? Ist es zu mehr Beziehungskrisen gekommen?

Ich glaube schon. Die Corona-Krise richtet sich wie ein Brennglas auf alle möglichen Konflikte. Ich hatte noch nie so viele Paaranfragen wie im letzten Jahr.

"Wenn man einen Mann und eine Frau fragt was Nähe bedeutet, würden sie sehr unterschiedliche Antworten bekommen"

Woran könnte das liegen?

Einerseits sind viele Menschen im Homeoffice und hatten Zeit, sich mit ihren Problemen zu beschäftigen. Andererseits sind die Probleme deutlicher geworden. Manche Paare sind räumlich sehr eng zusammen und den ganzen Tag im Homeoffice, also den ganzen Tag in irgendeiner Form in Kontakt miteinander. Das ist schwer auszuhalten, auch wenn man den anderen noch so liebt. Man muss schauen, wo man Räume für sich finden kann, aber das ist nicht so einfach.

Haben sich die Geschlechterrollen in der Pandemie gewandelt? Und werden sie so bleiben?

Es haben sich bestimmte Rollen verstärkt. In Homeschooling-Situationen habe ich bemerkt, dass viele Frauen, die berufstätig sind, sehr schnell die Verantwortung übernommen haben. Die waren auch davor mehr im Schulthema drin als die Väter. Diese Belastung hat sich erhöht. Ich kann mir aber vorstellen, wenn wir wieder ein Stück andere Normalität bekommen – denn die Normalität, die wir kennen, gibt’s nicht mehr – werden sich wieder neue Konstrukte ergeben. Wir Menschen passen uns der Situation an, die kommt.

Ein letztes Klischee zum Abschluss: Stimmt es, dass sich Frauen mehr nach Nähe sehnen als Männer?

Wenn man einen Mann und eine Frau fragt was Nähe bedeutet, würden sie sehr unterschiedliche Antworten bekommen. Ich glaube, dass Frauen in der Tendenz – ich hasse Pauschalisierungen – eher emotionale Nähe und Männer eher körperliche Nähe brauchen. Männer wie Frauen wollen Nähe gleichermaßen, nur die Ansprache ist eine andere.

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