Frauen verdienen im Durchschnitt noch immer deutlich weniger als Männer und sind seltener in Führungspositionen vertreten. Anlässlich des Weltfrauentages wird debattiert, wie sich diese Ungleichheiten überwinden lassen.
Doch wie steht es eigentlich um die Bildungsgerechtigkeit in Deutschland? Welchen Beitrag zur Gleichstellung kann das Bildungssystem leisten? Und wo gibt es noch immer Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen? Die Frage nach gerechter Verteilung von Bildung rückt immer weiter in den Fokus – nicht nur zwischen den Geschlechtern.
Die Psychologin Axinja Hachfeld erklärt im watson-Interview, wie es um die Gleichberechtigung im deutschen Bildungssystem steht, was Lehrkräfte tun können, um Mädchen und junge Frauen besser zu fördern und welchen Beitrag die bewusste Verwendung von Sprache leisten kann.
watson: In Deutschland haben Schülerinnen mittlerweile im Durchschnitt bessere Noten und machen häufiger das Abitur als Schüler. Können wir bereits von Gleichberechtigung in der Bildung reden?
Axinja Hachfeld: Das stimmt. Vor allem in der ersten Hälfte des Bildungsweges haben die Mädchen mittlerweile die Nase vorn: sie bekommen häufiger eine Gymnasialempfehlung und machen häufiger das Abitur. Dabei hilft ihnen, dass sie häufig eine höhere Selbstständigkeit und Motivation im Lernen zeigen als Jungen. Und, dass Lehrkräfte bei den Übergangsempfehlungen auch das Arbeitsverhalten einbeziehen. Dieser Vorsprung setzt sich aber im tertiären Bildungsbereich und im Arbeitsleben nicht weiter fort. Hier können wir noch nicht von Gleichberechtigung sprechen.
Mädchen haben bei der Bildungsbeteiligung in den letzten Jahrzehnten stark aufgeholt. Woran liegt das?
Dieser Trend ist seit Mitte der Siebzigerjahre zu beobachten. Interessanterweise dürfen Frauen seit Mitte der Siebziger arbeiten, ohne einen männlichen Vormund, also ihren Mann oder Vater, um Erlaubnis zu fragen. Natürlich lohnt sich die Investition in Bildung nur dann, wenn sie sich auch auf dem Arbeitsmarkt rentiert. Das ist nicht der Fall, wenn der Arbeitsmarkt für Frauen nur sehr eingeschränkt zugänglich ist. Aber das ist natürlich nur eine Erklärung, warum Mädchen mittlerweile besser sind. Für meine Studentinnen ist es oft kaum vorstellbar, dass es gar nicht so lange her ist, dass Frauen eine Erlaubnis zum Arbeiten brauchten.
Welche geschlechterspezifischen Unterschiede lassen sich in der Schule noch beobachten?
Das fängt schon bei Kleinigkeiten an, zum Beispiel wie man Kinder lobt. Es lässt sich beobachten, dass Jungs viel häufiger als "schlau" bezeichnet werden, während Mädchen eher als "fleißig" gelten. Das heißt, Intelligenz wird häufig mit dem männlichen Geschlecht verknüpft. Was dazu führt, dass beispielsweise mehr Jungen als hochbegabt diagnostiziert werden als Mädchen. Das verinnerlichen die Mädchen.
Wie zeigt sich das?
Eine Studie aus den USA hat gezeigt, dass Mädchen andere Mädchen nach dem Schuleintritt seltener als "intelligent" beschreiben als davor. Für Jungs zeigt sich diese Veränderung nicht. Die Studie ging aber noch einen Schritt weiter: den Kindern wurde ein Spiel angeboten, dass entweder als "smart game" oder "try hard game" beschrieben wurde. Während sich die Jungen häufiger für das "smart game" entschieden, wählten die Mädchen das "try hard game". Und dieser Unterschied nahm nach dem Schuleintritt noch zu. Die Studie zeigt deutlich, dass Sprache unser Denken und unsere Entscheidungen beeinflusst. Dieses Bild setzt sich dann in ganz vielen kleinen Kommunikationssituationen fort.
Die Kategorisierung von Geschlechtern beginnt also schon vor der Schule…
Ja, wir Menschen kategorisieren eigentlich, sobald wir auf der Welt sind. Schon Säuglinge können Männer und Frauen voneinander unterscheiden und Präferenzen entwickeln. Durch unsere Sprache und im Umgang mit Kindern können wir diese Kategorisierung entweder verstärken, indem wir Geschlechtsunterschiede betonen und Verhalten von Mädchen und Jungen unterschiedlich bewerten. Oder wir können versuchen, stärker auf Gemeinsamkeiten und Individualität hinzuweisen, also eher "genderneutral" zu erziehen.
Wovon hängt es denn ab, für welche Art der Erziehung wir uns entscheiden?
Welchen Weg wir gehen, hängt stark von unseren Rollenvorstellungen ab. Dadurch ist das Thema ideologisch sehr aufgeladen. Als Wissenschaftlerin kann ich nur darauf hinweisen, welche Auswirkungen ein bestimmtes Verhalten zum Beispiel auf Berufsentscheidungen haben kann. Wie wir als Gesellschaft diese Auswirkungen bewerten, ist dann eine politische Diskussion.
Sollte in der Schule aktiver versucht werden, diese gesellschaftlichen Ungleichheiten abzubauen?
Ich denke schon. Aber das ist eine politische Diskussion, inwieweit wir in unserer Gesellschaft an traditionellen Rollenbildern festhalten möchte oder nicht. Auch die Meinungen der Eltern gehen hier weit auseinander. Von den Lehrkräften erwarte ich, dass sie ihre eigenen Rollenvorstellungen reflektieren, den Forschungsstand berücksichtigen und in der Schule professionell agieren. Das bezieht sich zum Beispiel auf die Kommunikation mit Mädchen und Jungen oder auf die Frage, ob das Konzept "Geschlecht" in bestimmten Situationen überhaupt aktiviert werden sollte. Denn dadurch werden auch immer wieder Stereotype aktiviert.
Kann eine gendergerechte Sprache dabei helfen, solche Stereotype abzubauen?
Auf jeden Fall. Die psychologische Forschung zeigt, dass unser Gehirn das generische Maskulinum eben nicht als eine umfassende Kategorie wahrnimmt, sondern als eine männliche. Wenn ich diese Form verwende, zum Beispiel, wenn ich "Forscher" sage, denken vor allem Kinder erstmal nur an einen Mann. Frauen werden nicht mitgedacht, das heißt, Mädchen denken dann von sich auch nicht als "Forscherin".
Sollten Lehrkräfte in ihrer Ausbildung stärker für dieses Thema sensibilisiert werden?
Ja, ich glaube diese Sensibilisierung in der Kommunikation erfolgt viel zu wenig systematisch. Das Thema Diversität ist zwar bereits an allen Universitäten angekommen, aber wo die Unis ihre Schwerpunkte setzen und was unterrichtet wird, bleibt ihnen überlassen.
Herrscht auch Aufholbedarf bei anderen Kategorien als Geschlecht?
Die Sensibilisierung sollte nicht nur auf Geschlechterungleichheiten begrenzt sein, denn es gilt, generell eine reflektierte Kommunikation im Kontext von Diversität zu fördern. Lehrkräfte müssen sich einerseits vorhandener Ungleichheiten und Diskriminierungen in der Gesellschaft bewusst sein und andererseits alle Kinder individuell fördern. Aus meiner Sicht ist es wichtig, dass Lehrkräfte diese Aufgabe für sich annehmen und dass die Schulen dafür auch gut ausgestattet werden, zum Beispiel mit multiprofessionellen Teams.
Stichwort Berufsleben: Frauen gehen mittlerweile häufiger an die Uni als Männer. Dafür absolvieren sie seltener eine Berufsausbildung. 2019 lag der Anteil weiblicher Auszubildenden bei 35 Prozent. Wie können in der Schule gewisse Berufe für Frauen attraktiver gemacht werden?
Der Unterschied ist nicht nur Schule versus Ausbildung, sondern vor allem die Fachrichtung. In beiden Fällen ist es wichtig, dass den Schülerinnen schon in der Schule weibliche Vorbilder begegnen. Zum Beispiel, dass nicht nur männliche Physiker im Physikraum hängen. Oder, dass an Berufsorientierungstagen die Dachdeckermeisterin in die Schule kommt und nicht der Dachdeckermeister. Das finde ich sinnvoller als reine Veranstaltungen für Mädchen, wie beispielsweise den "Girlsday". Das aktiviert wieder Stereotypen. Es ist also wichtig, dass man verschiedene Angebote schafft und verschiedene Interessen berücksichtigt, ohne darauf hinzuweisen, dass es ein geschlechtsspezifisches Angebot ist.
Was ist am Frauentag 2021 Ihr Wunsch für die Zukunft?
Mein Wunsch ist es, den kleinen Vorsprung in der Bildungsbeteiligung, den Frauen jetzt haben, in das Berufsleben und in die Gesellschaft hineinzubringen. Davon können wir alle gleichermaßen profitieren. Frauen sind in der Arbeitswelt keine Konkurrenz für Männer. Im Gegenteil, die Gleichberechtigung der Geschlechter ermöglicht auch für Männer neue Freiheiten.