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Psychologe erklärt, wem es nach Corona schwerfallen wird, zur Normalität zurückzukehren

Group of several young people getting drunk at underground swag party, one girl almost choking on beer as all suddenly burst out laughing when chilling out on couch in quiet corner of crowded nightclu ...
Eng beieinander sitzen, lachen und das Bier rumgeben. Haben wir uns das schon abgewöhnt? Bild: iStockphoto / shironosov
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"Wir werden nach der Pandemie eine Art Spaltung erleben": Psychologe erklärt, wem es schwerfallen wird, zur Normalität zurückzukehren

10.05.2021, 15:5111.05.2021, 12:59
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Früher sind Menschen in rappelvollen S-Bahnen am Samstagabend in Keller-Clubs gefahren, wo sie dicht an dicht tanzten und knutschten. Früher gab es Oktoberfeste, auf denen Tausende den Bierkrug rumgehen ließen und Weihnachtsgottesdienste, in denen eine ganze Gemeinde lauthals "Oh du Fröhliche" schmetterte. 2019 scheint tausend Jahre her.

Die vergangenen Monate unter dem Eindruck des Covid-19-Virus haben uns Menschenansammlungen und körperliche Nähe fürchten lassen. Doch nun scheint es, als sei die Rückkehr zu einer sorgloseren Welt wieder zum Greifen nahe. Fast 33 Prozent der Menschen in Deutschland erhielten eine Erstimpfung (Stand 10. Mai) und vollständig Geimpfte, sowie Genesene dürfen sich seit vergangenem Wochenende wieder freier bewegen. Stellt sich nur die Frage: Können wir Normalität überhaupt noch?

Stephan Grünewald ist Psychologe, Buchautor und Mitbegründer des Rheingold-Instituts, welches auch während der Corona-Krise die Psyche der Deutschen erforscht. Bei watson berichtet er von Menschen, die den Lockdown eigentlich prima fanden und warum wir wohl im Supermarkt nie wieder so nah beieinander stehen werden wie früher.

"Wir werden nach der Pandemie eine Art Spaltung erleben: Einige werden in den Kompensationsmodus gehen und allen um den Hals fallen, weil sie regelrecht nach Berührung lechzen und andere werden weiter distanziert bleiben, vielleicht sogar argwöhnisch."

watson: Vor welche Herausforderung hat uns die Corona-Krise psychisch gestellt?

Stephan Grünewald: Corona bedeutet eine große Ohnmachtserfahrung, weil das Virus eine unsichtbare Bedrohung ist, der wir kaum etwas entgegensetzen können. Wir kompensieren das mit einem ausgiebigen Frühjahrsputz, der Verschönerung unseres Heims als eine private Festung und dem ja inzwischen berühmten Kauf von Klopapier – das sind alles sehr praktische Wege aus dieser Ohnmacht. Aber wir personifizieren diese unsichtbare Bedrohung auch, indem wir anfangen, den Nächsten als Virusträger zu betrachten.

Vor Corona hat man seine Mitmenschen eher selten als potenzielle Krankheitsüberträger betrachtet. Hat sich diese Wahrnehmung jetzt grundlegend geändert?

Ja. Corona hat aus der Kultur der Nächstenliebe eine Fernbeziehung gemacht. Die Menschen, die uns im öffentlichen Raum begegnen, sind uns jetzt fremder als je zuvor. Das Tragen von Masken verstärkt das sogar noch, denn diese Vermummung wird eher mit Bankräubern assoziiert und nimmt einen Teil der Mimik, das schafft Misstrauen. Wir ziehen uns unter Corona immer mehr in die Familie zurück, treffen die immer gleichen Leute und fördern damit ein Gefühl der Weltfremdheit. Es wird mühselig sein, nach der Pandemie wieder zu lernen, mit offenen Armen und Herzen aufeinander zuzugehen.

"Es gibt Menschen, die waren sehr froh, dass es nun endlich Abstandsregeln im Supermarkt gibt und sie keine Hände mehr schütteln mussten."

Hat Corona uns also die Herzlichkeit abgewöhnt?

Wir werden nach der Pandemie eine Art Spaltung erleben: Einige werden in den Kompensationsmodus gehen und allen um den Hals fallen, weil sie regelrecht nach Berührung lechzen und andere werden weiter distanziert bleiben, vielleicht sogar argwöhnisch. Es gibt Menschen, die waren sehr froh, dass es nun endlich Abstandsregeln im Supermarkt gibt und sie keine Hände mehr schütteln mussten, weil es ihrem Distanzwunsch entgegenkam. Diese Menschen werden versuchen, diesen Abstand auch nach der Pandemie aufrechtzuerhalten.

Einigen kamen die Corona-Maßnahmen also sogar gelegen?

Interessanterweise ja. Wir haben schon im ersten Lockdown festgestellt, dass die Maßnahmen komplett unterschiedlich erlebt werden. Ein Großteil der Menschen hat uns in Befragungen geschildert, dass der Lockdown eine existenzielle Verunsicherung für sie ist. Diese Leute litten unter der Angst um ihre Gesundheit und ihren Job, auch unter der Enge in ihrem Zuhause. Aber fast ein Drittel haben sich erstaunlich schnell in diesem isolierten Leben eingerichtet und den Lockdown auch als willkommene Zeit der Entschleunigung erlebt. Die Corona-Maßnahmen verkleinerten ihren Lebenskreis.

Was fanden die daran so gut?

Das Leben wurde dadurch überschaubarer und berechenbarer. Diese Menschen waren froh, nicht auf Partys eingeladen zu werden, wo sie sich unwohl fühlten oder dem Stress einer Fernreise ausgesetzt zu werden, nur weil der Partner das so toll findet. Sie waren erleichtert, sich keinen neuen Herausforderungen stellen zu müssen.

Und denen wird es schwerfallen, wieder in den alten Zustand zurück zu "müssen"?

Vermutlich. Für einige Menschen war der Lockdown eine willkommene Entlastung. Viele sagten uns auch, dass sie nun endlich nicht mehr neidisch auf ihre Nachbarn waren, die sonst ein so tolles Freizeitleben führten. Die Corona-Maßnahmen waren diesbezüglich ein großer Gleichmacher: Niemand konnte reisen, niemand konnte schön Einkaufen und Essen gehen. Die sozialen Ungleichheiten werden mit den Lockerungen aber wieder offensichtlicher zutage treten und dann kommen auch die alten Gefühle zurück.

"Viele sagten uns auch, dass sie nun endlich nicht mehr neidisch auf ihre Nachbarn waren, die sonst ein so tolles Freizeitleben führten."

Glauben Sie denn, dass sich gewisse "Corona-Angewohnheiten" langfristig etablieren werden, wie zum Beispiel das Tragen der Maske?

Bestimmt. In asiatischen Ländern war es ja schon lange üblich, dass erkältete Menschen einen Mund-Nasen-Schutz trugen. Ich weiß noch, wie seltsam ich diesen Anblick noch vor zwei Jahren fand, doch inzwischen ist das Tragen der Maske den meisten Menschen in Fleisch und Blut übergegangen. Die Maske als Virusschutz ist Teil unseres Verhaltensrepertoires geworden, es hat sich habitualisiert und wird sicher auch in Zukunft schneller wieder eingesetzt werden.

Finden wir denn jemals wieder zurück zur Normalität?

Wir werden vermutlich erst einmal eine Übergangszeit durchmachen, in der einzelne Teile des Lebens nach und nach geöffnet werden. Das kommt vielen Menschen auch entgegen, die erst einmal abwarten und beobachten wollen, wie sich das alles so entwickelt.

Das heißt, selbst wenn es möglich wäre, werden wir im Supermarkt wohl nicht mehr eng hintereinander an der Kasse stehen.

Vermutlich nicht. In einer ausgelassenen Stimmung, wie bei einem Fußballspiel, werden sich auch fremde Menschen sicher wieder näher kommen, aber im Alltag – im Bus oder im Supermarkt – hält sich die Vorsicht länger. Ich glaube, eine gewisse Reserviertheit wird uns erhalten bleiben. Die Welt nach Corona wird nicht mehr so freizügig sein, wie wir das kannten.

Stephan Gruenewald zu Gast in der M.Lanz (ZDF) Talk Show am 6.03.2019 in Hamburg M.Lanz (ZDF) Talkshow am 6.03.2019 in Hamburg *** Stephan Gruenewald guest at the M Lanz ZDF Talk Show on 6 03 2019 in  ...
Psychologe Stephan GrünewaldBild: www.imago-images.de / imago images

Wie wird sie dann aussehen?

Ich vermute, dass wir lernen werden, mit dem Virus zu leben und unser Verhalten anzupassen. Die Menschen werden sich zum Beispiel im Winter anders benehmen als im Sommer, um Infektionsketten zu vermeiden. So wie wir heute Handschuhe und Mützen für die kalte Jahreszeit rausholen, wird sich auch unser Verhaltensrepertoire erweitern – dann werden zum Beispiel große Feste grundsätzlich eher im Sommer im Freien geplant.

"Die Menschen werden sich zum Beispiel im Winter anders benehmen als im Sommer, um Infektionsketten zu vermeiden."

Was ist zu erwarten, wenn es um Massenveranstaltungen geht? Glauben Sie, die Zeiten von Oktoberfest und Festivals sind vorbei?

Es braucht sicher eine Anlaufphase, bis die Mehrheit der Bürger sich den Besuch einer Großveranstaltung wieder zutraut. Das ist nur natürlich. Der Erfahrungsradius wird Stück für Stück ausgeweitet, bis man sich wieder sicher fühlt: Die Menschen werden also zum Beispiel im ersten Jahr viel in Restaurants gehen und an die Ostsee fahren. Im zweiten Jahr dann erste Familienfeste nachholen und nach Spanien reisen. Und im dritten Jahr wird dann wieder das Festival-Ticket gebucht und nach Thailand geflogen.

In Großbritannien kam es nach der Lockerung des Lockdowns unmittelbar zu ausgelassenen Feiern. Wird das hier nicht so sein?

Doch, kurzfristig schon. Das ist aber kein langfristiger Trend, sondern reine Kompensation, vergleichbar mit dem Heißhunger, der nach der Fastenzeit erwacht. Die Sehnsucht nach Partys, Fußballspielen und Begegnungen mit anderen Menschen ist groß. Es wird ja vermutlich nicht alles auf einen Schlag wieder möglich sein, aber im gebotenen Rahmen werden die Menschen sich natürlich über erste kleine Freiheiten freuen und sie auch auskosten.

Wo sehen Sie als Psychologe langfristig das größte Problem, das durch die Corona-Krise verursacht wurde?

Die Probleme liegen vor allen darin, dass wir unter Corona in eine zugespitzte, gesellschaftliche Polarisierung hineingeraten sind. Das Gefühl, in einer endlosen Lockdown-Schleife gefangen zu sein, hat die Gesellschaft in einen regelrechten Glaubenskrieg geführt. Früher hatten wir eine breite, gemäßigte Mitte in der Gesellschaft, extreme politische Meinungen waren eher Randerscheinungen. Durch Corona haben sich jedoch zwei große, unversöhnliche Lager entwickelt, die sich gegenseitig vorwerfen, Menschenleben zu gefährden oder eine Gesundheits-Diktatur zu propagieren. Es wird meines Erachtens die größte Herausforderung werden, wieder ein gesellschaftliches Verstehensklima herzustellen.

Was meinen Sie damit?

Momentan führt jedes falsche Wort zu Entrüstung und einem Shitstorm auf der Gegenseite. Die Ohnmachtserfahrung von Corona hat uns gereizt gemacht, aber wir müssen lernen, einander wieder zuzuhören. Man sollte auch seinem vermeintlichen Gegner erst einmal anrechnen, dass er vermutlich das Beste für die Gesellschaft will, er sucht dabei nur einen anderen Weg. Im Corona-Frust sind soziale Wunden unter den Menschen geschlagen worden, die müssen jetzt verheilen.

"Die Erfahrung, dass solche Krisen unweigerlich kommen und wir uns ihnen stellen können, setzt auch Kräfte frei."

Wird es auch einen positiven Effekt auf die Gesellschaft geben?

Ich glaube, dass nach der Pandemie eine gewisse Aufbruchstimmung entstehen wird. Wir befanden uns vorher in so einer "Auenland-Bräsigkeit", wie ich es nenne: Wir Deutschen fühlten uns gut und sicher mit unserem Leben und unserem Besitz und hatten immer nur Sorge, dass die Zukunft schlechter werden könnte. Wir haben uns daher in einer permanenten Gegenwart verbunkert, uns gegen Entwicklungen gesperrt aus Angst, Gewohnheiten und Besitzstände zu verlieren.

Und dann kam Corona...

Ungewollt hat uns die Pandemie aus dieser gut behüteten Welt geschmissen und alles in Frage gestellt. Das war schmerzlich, aber es ist auch der Beginn einer emanzipatorischen Haltung und könnte uns dazu bewegen, wieder neue Dinge zu wagen. Die Erfahrung, dass solche Krisen unweigerlich kommen und wir uns ihnen stellen können, setzt auch Kräfte frei: Ich könnte mir vorstellen, dass wir in Zukunft den Klimawandel mit deutlich mehr Elan angehen.

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