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Einen Monat Hartz 4 gucken: Das hat eine Armutsshow mit mir gemacht

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Bild: RTL 2 / watson Montage
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Nach einer Staffel "Armes Deutschland" fühle ich mich wie ein schlechter Mensch

17.06.2019, 21:34
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Ich besitze seit fast 15 Jahren keinen Fernseher mehr. Ich schaue kein Dschungelcamp, keinen Bachelor, keinen Tatort. Wenn ich Unterhaltung suche oder ich mich einfach nur entspannen will, schaue ich eigentlich gar nichts mehr, was man nicht auf Netflix oder Youtube gucken kann.

Nachdem ich nun einen Monat lang die gesamte neue Staffel "Armes Deutschland" auf RTL 2 gesehen habe, wurde mir wieder einmal bestätigt: Die Entscheidung, den Fernseher loszuwerden, war ganz gut.

Wer die Sendung noch nicht kennt: "Armes Deutschland" will eine Sozialdokumentation sein. Dabei werden Extremfälle von Armutssituationen porträtiert, oft junge Menschen ohne Berufsabschluss, die sich weigern, arbeiten zu gehen. Oder Familien, die so viele Kinder in die Welt setzen, dass sie keiner geregelten Tätigkeit mehr nachgehen können, weil sie sich um den Nachwuchs kümmern müssen.

Lauter Fälle also, bei denen man vor dem Fernseher sitzen und weise nicken kann: Ja, solche Menschen gibt es. Wenn auch meist nur im TV, wenn man mal genauer darüber nachdenkt. Das finde ich weder sozial, noch wird das dem Charakter einer Dokumentation gerecht.

Ich bekomme beim Fernsehen ein schlechtes Bild von Hartz-IV-Empfängern

Am Schlimmsten aber ist es, dass ich beim wiederholten Schauen von Sendungen wie "Armes Deutschland" merke: Ich bekomme nicht nur immer schlechtere Laune, sondern auch einen immer schlechteren Eindruck von Menschen, die in prekären Verhältnissen leben. Mehr noch: Die Protagonisten von "Armes Deutschland" nerven mich.

Ich fange an, mich zu fragen, warum die denn nicht arbeiten gehen wollen oder ihr Leben mal in die Hände nehmen oder einfach mal aufhören, Kinder zu machen. Und da ich mich eigentlich als recht liberalen und aufgeklärten Menschen sehe, finde ich diese Entwicklung relativ schockierend:

Ich muss mich dagegen wehren, zum Menschenfeind zu werden, wenn ich 'Armes Deutschland' schaue.

Ich, die doch immer predigt, dass alle Menschen eine Chance verdienten und wir aufeinander zugehen müssten und hinter die Fassaden blicken sollten, muss mich dagegen wehren, zum Menschenfeind zu werden, wenn ich zu viel "Armes Deutschland" schaue. Und ich glaube nicht, dass das an einer plötzlichen Sinneswandlung liegt, sondern eher daran, wie diese Sendung funktioniert.

  • Es liegt an der qualitativen Auswahl der Geschichten.
  • Es liegt daran, dass die Stimme, die das Geschehen aus dem Hintergrund kommentiert, sich nicht zu schade ist, jeweils eine bestimmte Interpretation der Fälle vorzugeben, von der es auf Dauer schwierig ist, abzuweichen und sich eine eigene Meinung zu bilden.
  • Es liegt auch an der gefühlten Wiederholung der vermeintlich individuellen Biographien: Je öfter ich einen bestimmten Typus von "armen Menschen" gezeigt bekomme, umso eher habe ich den Eindruck, dass dieser Typus massig in unserer Gesellschaft vertreten ist.

Der Extremfall von Armut wird zur Normalität

Wenn ich nur Extremfälle sehe, nehme ich den Extremfall irgendwann als Normalfall an. Und im Fernsehen wird meist der negative Extremfall gezeigt, ich bekomme also ein besonders schlechtes Bild von Menschen in Armut.

Das hat mich beim Schauen der Sendung "Armes Deutschland" in den letzten Wochen schier zur Verzweiflung getrieben:

  • Ich war wütend auf die Protagonisten, die sich nicht anstrengen wollen und müde, ihre sehr einseitig erzählten Geschichten zu hinterfragen.
  • Ich war selbst der zwischengestreuten Positivbeispiele der "fleißigen" Armen müde, die alles versuchen, um nicht in Hartz IV zu geraten und so die Negativbeispiele noch schlechter dastehen lassen.
  • Ich war aber vor allem wütend auf mich selbst, weil ich doch glaube, wie viele andere Zuschauer wahrscheinlich auch, zu wissen, wie Fernsehen funktioniert.

Die Geschichten finden natürlich nicht Eins zu Eins so im richtigen Leben statt, und natürlich bedient RTL 2 mit "Armes Deutschland" eher ein Unterhaltungsformat, als anspruchsvolle Inhalte zu zeigen. Und trotzdem muss ich mich nach Ende der Sendung gegen den Eindruck wehren, es gäbe eine überproportional große Gruppe von Menschen, die lieber den Staat ausnutzen wollen, als arbeiten zu gehen.

"Nach jeder Folge 'Armes Deutschland' habe ich einen Kloß im Hals."

Selbst wenn ich mich bewusst mit der Sendung auseinandersetze, kann ich nicht zu hundert Prozent sagen, wo sie übertrieben ist, wo sie geschickt zusammengeschnitten ist, wo mir die kommentierende Stimme aus dem Off vielleicht tiefer ins Gewissen redet, als mir lieb ist. Und obwohl ich weiß, dass die meisten Menschen in Armut sich ihre Situation nicht ausgesucht haben, obwohl ich weiß, dass nicht einmal zehn Prozent der Hartz-IV-Empfänger gegen die Auflagen verstoßen und deswegen sanktioniert werden, habe ich nach jeder Folge "Armes Deutschland" einen Kloß im Hals.

Ich war selbst Hartz-IV-Empfängerin

Nun habe ich aufgrund meines Hintergrunds einen besonderen Bezug zu Armutsshows: Ich bin selbst aufgewachsen als Kind polnischer Immigranten, die mehrfach ihre Jobs verloren haben. Geld war bei uns zu Hause meistens knapp. Wir lebten zwischenzeitlich von Sozialhilfe, später von Hartz IV. Auch nachdem ich mein Abitur gemacht, ein Studium abgeschlossen und angefangen habe, zu arbeiten, kann ich die Gewissheit, aus einer anderen sozialen Schicht zu stammen, nicht ganz abschütteln.

Diese soziale Schicht sah aber niemals so aus, wie sie auf RTL 2 gezeigt wird. Das liegt sehr wahrscheinlich nicht daran, weil wir die Vorzeige-Hartzer waren – sondern eher daran, dass es unterhaltsamer ist, besonders extreme Negativfälle zu zeigen. Wer will schon den "normalen" Hartzer sehen? Durchschnitt macht leider keine Quote, das weiß jeder, der in den Medien arbeitet.

Die letzten vier neuen Folgen von "Armes Deutschland" fand ich in dieser Hinsicht besonders schwer verdaulich – einerseits, weil ich traurig war über das Bild, das von Menschen in finanziellen Notlagen dort entworfen wird. Andererseits allerdings auch, weil man aufgrund der Erzählweise der Sendung kaum umhin kommt, negative Gefühle gegen die Protagonisten zu entwickeln. Und zwar schleichend, obwohl man noch zu Beginn der Sendung meint, zwischen dem Dargestellten und der Realität unterscheiden zu können.

Wer will schon den 'normalen' Hartzer sehen?

In der letzten Staffel haben wir zum Beispiel den 23-jährigen Alex gesehen, der meint, nicht arbeiten gehen zu müssen, weil er Vater dreier Kinder ist. Oder Dennis, Ende 30, der zum wiederholten Male im Gefängnis saß und nach Freilassung nun schauen muss, wie er seine Familie allein von Hartz IV versorgt. Oder das junge Pärchen Jenny und Max, die in einer verwahrlosten Wohnung leben und ihre Kaninchen verdursten und verhungern lassen.

Als ehemalige Hartz-IV-Empfängerin kann ich mich mit solchen Fällen nicht identifizieren und kenne auch niemanden, der so lebt oder gelebt hat. Das muss natürlich nicht heißen, dass solche Geschichten nicht so stattfinden. Ich frage mich allerdings: Welchen Mehrwert hat es, sie zu erzählen – vor allem sie in so einer Dichte zu präsentieren? Kann ich, wenn ich ein extremes Negativ-Beispiel nach dem anderen zeige, Armut hierzulande realistisch darstellen? Kann die Sendung die zu Beginn stets gestellte Frage "Lohnt sich Arbeit in Deutschland?" mithilfe dieser Fälle beantworten?

"Armes Deutschland" verzerrt die Realität für mich

Was passiert, ist, dass ich ein verzerrtes Bild der Realität präsentiert bekomme. Das liegt einerseits an der Auswahl der Geschichten an sich, andererseits auch an deren Darstellung – zum Beispiel, wie die Stimme aus dem Off das Geschehen kommentiert und so die Interpretation des Zuschauers in eine bestimmte Richtung lenkt.

Wenn die Stimme zum Beispiel über Alex regelmäßig und wochenlang sagt, dass er sich lieber in der sozialen Hängematte ausruht, als arbeiten zu gehen, fällt mir das immer schwerer, seinen Fall zu hinterfragen. Wenn mir nur Ausschnitte gezeigt werden, in denen Alex freche Antworten gibt und offen zugibt, faul zu sein, vergesse ich irgendwann, selbst den offensichtlichen Unsympathen zu hinterfragen. Irgendwann ärgere ich mich nur noch über Alex, anstatt darüber nachzudenken, dass er schon mit 16 obdachlos war, zwischenzeitlich im Gefängnis saß und da wohl von Grund auf einiges schief in seinem Leben gegangen ist.

Das ist es doch, was wir am Ende wollen: dass der Sozialschmarotzer nicht mehr sozialschmarotzt.

Das ist zwar keine Entschuldigung für seine Abneigung, arbeiten zu gehen und so seinen Teil zur Gesellschaft beizutragen – aber es ist eine Erklärung dafür, warum es ihm anscheinend so schwer fällt. Der Versuch, das gesamte Bild zu betrachten, nimmt den Hass auf Menschen wie Alex. Und nur, wenn ich Menschen wie Alex nicht hasse, kann ich versuchen, sie wieder zu einem funktionierenden Teil der Gesellschaft zu machen. Und das ist es doch, was wir am Ende wollen: dass der Sozialschmarotzer nicht mehr sozialschmarotzt, und zwar möglichst aus eigenem Willen heraus, weil es erfahrungsgemäß einfacher ist, Menschen nicht konstant zwingen zu müssen.

Das Problem sind nicht die Extremfälle von Armut – sondern deren Darstellung

Mein Problem mit "Armes Deutschland" ist nicht unbedingt, dass diese Extremfälle gezeigt werden – sondern dass mir nicht ersichtlich ist, warum. Dass sie unter dem vermeintlichen Deckmantel präsentiert werden, ein realistisches Abbild von Armut in Deutschland zu erzeugen – und dann aber in kein Verhältnis gesetzt werden. Ein Verhältnis, das beweist: Das sind nur Einzelfälle. Das ist nicht Deutschland. Bitte denkt nicht, dass alle armen Menschen so sind. Und selbst wenn arme Menschen so sind: Meist gibt es triftige Gründe dafür, die konstruktive Lösungen erfordern.

"Ich wehre mich dagegen, zu glauben, dass so viele Menschen in Armut schlecht sind."

Ich wehre mich dagegen, zu glauben, dass so viele Menschen in Armut schlechte Meschen sein sollen. Dass ihre Armut selbst verschuldet ist. Leider ist Armut ein strukturelles Problem, das meist vielschichtiger ist, als es ein einzelnes Schicksal darzustellen vermag. Noch dazu in einer bestimmten Interpretationsweise, wie "Armes Deutschland" sie meist zeigt.

Ich wehre mich dagegen, die Beispiele in "Armes Deutschland" als Antwort auf die Frage: "Lohnt sich Arbeit in Deutschland?" anzunehmen. Denn wenn ich das tun würde, müsste ich gezwungenermaßen sagen: Nein.

Dass das aber nicht stimmen kann – darüber sind wir uns hoffentlich alle einig. Und dass nicht lediglich ein winziger Bruchteil der Menschen in prekären Verhältnissen in Deutschland so sind wie bei RTL 2 gezeigt – darüber hoffentlich auch.

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Es war das Jahr 2011. Ich war 17 und saß der Gastroenterologin gegenüber, die bereits die zweite Speiseröhrenspiegelung an mir durchgeführt hatte. Die Kamera wies zwar erneut Reizungen in meiner Speiseröhre nach, bot aber keine Erklärung für meine weiteren Symptome – wie etwa, dass mir besonders von Kohlensäure immer übel wurde. Ich hatte keine Ahnung, ob überhaupt irgendein Zusammenhang mit der Speiseröhre bestand, aber sie war die Spezialistin und fragen kostete ja nichts. Außer meine Selbstwahrnehmung, wie ich sofort merken sollte.

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