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Arbeitslosen-Seelsorger warnt: "Junge Leute sind verunsichert"

Besonders junge Menschen scheinen durch die Corona-Krise ihre Jobs zu verlieren. Doch arbeitslos zu werden ist nicht nur für das Konto eine enorme Belastung.
Besonders junge Menschen scheinen durch die Corona-Krise ihre Jobs zu verlieren. Doch arbeitslos zu werden ist nicht nur für das Konto eine enorme Belastung.Bild: imago-images / AntonioGuillem
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Wegen Corona: "Junge Leute sind verunsichert", warnt ein Arbeitslosen-Seelsorger

17.08.2020, 08:57
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Mike Gallen

Die Corona-Krise ist nicht nur gefährlich für die Lungen, sondern auch die wirtschaftliche Existenz junger Leute. Das geht aus einer aktuellen Studie des Bundesverbands der Arzneimittel-Hersteller hervor: Jeder zweite Deutsche zwischen 18 und 29 Jahren hat demnach unter finanziellen Einbußen zu leiden, so die Forscher. Vermutlich, weil sie schlechtere Verträge haben als die älteren und schneller ihren Job verlieren.

Doch wie schwer nagt es an der Seele, wenn ein Mensch arbeitslos wird? Wenn man sich fremd fühlt im tätigen Gewusel auf den Straßen? Mike Gallen von der Diözese in München weiß es. Er ist Deutschlands einziger hauptamtlicher Seelsorger für Arbeitslose. Für watson erzählt er aus seinem Arbeitsalltag und erklärt, warum der Jobverlust oft der Beginn einer großen Einsamkeit ist.

"Die ersten Monate ohne Job denkt man ja oft noch, es handle sich um eine Übergangsphase..."
Mike Gallen

Wie ich meinen eigenen Job erfand

Ich bin Seelsorger für Arbeitslose, eine Stelle, die es vorher so nicht gab. Meine Biografie hat mich in meiner Berufswahl geprägt: Ich komme aus Neuseeland und habe irische Wurzeln. Mein Vater arbeitete als Schafscherer, wir gehörten also nicht zum Bildungsbürgertum, waren aber in der katholischen Kirche. In den 70ern wurde der Fokus der Kirche immer stärker auf die Menschen am Rande der Gesellschaft gelegt, die Armen. Das hat zu mir gepasst.

Nachdem ich nach Deutschland gekommen bin, arbeitete ich für die Kirche sowohl mit Jugendlichen als auch als Betriebsseelsorger und hatte dabei so oft mit dem Thema Arbeitslosigkeit zu tun, dass ich meinem Chef vorschlug, eine neue Stelle speziell für Arbeitslose zu schaffen. Ich fing halbtags damit an, nach vier Jahren wurde daraus ein Vollzeitjob und – auch wenn das etwas theatralisch klingt – meine Berufung.

Wer sich bei mir meldet, ist meist schon lange arbeitslos. Die ersten Monate ohne Job denkt man ja oft noch, es handle sich um eine Übergangsphase. Erst wenn sich nach längerer Zeit keine neue Arbeitsstelle auftut, finden die Menschen zu uns.

Junge Leute leiden unter befristeten Anstellungen

In meiner großen Münchner Gruppe sind vor allem Arbeitslose um die 50 Jahre, aber aus meiner Arbeit mit Jugendlichen weiß ich, dass fehlende Jobs auch dort ein Thema sind. Das Problem sind vor allem die prekären Arbeitsstellen. Anständige, unbefristete Verträge sind für junge Menschen selten geworden, selbst, wenn sie gut qualifiziert sind, gelingt der Arbeitseinstieg nicht, weil sie sich von einem Zeitvertrag in den nächsten hangeln müssen. Das verunsichert und belastet stark, gerade wenn man noch ganz am Anfang steht.

Das große Schweigen über den Jobverlust

In Deutschland definieren sich die Menschen extrem über ihren Job. Ich erinnere mich, wie ich damals wegen der Liebe nach München zog. Mein Schwiegervater warf einen Blick auf mich und fragte direkt: Was machst du? Wovon willst du leben? Ich hatte nur ein abgebrochenes Studium und kein Geld in der Tasche. Für ihn war das unmöglich. Weil diese "Was machst du so beruflich?"-Frage hier oft gleich als erstes gestellt wird, ziehen sich arbeitslose Menschen oft aus sozialen Situationen zurück, sie schämen sich und schweigen.

Im Kirchenchor hier vor Ort gibt es beispielsweise mehrere Menschen, von denen ich weiß, dass sie arbeitslos sind, doch sie haben sich einander nie offenbart. Diese Hürde zu überwinden ist Teil meiner Arbeit. Arbeitslosigkeit betrifft so viele, es ist keine Schande und doch ist es mit einem großen Stigma versehen. Ich selbst brauchte zwei Jahre, bis ich eine stabile Gesprächsgruppe von etwa 25 Betroffenen zusammen hatte – dabei ist das so hilfreich. Keiner muss alleine durch so eine Zeit und wenn sich Menschen finden, können sie einander unterstützen und etwas bewegen. Gerade Arbeitslose brauchen diese Solidarität untereinander doch besonders.

"Ich bin überzeugt, dass Corona zu mehr Arbeitslosigkeit geführt hat."

Mit meiner großen Liebe, meiner Frau, bin ich übrigens immer noch zusammen, wir haben zwei Kinder und inzwischen sogar zwei Enkelkinder. Es lohnt sich also, einen Menschen über seine Jobsituation hinaus zu betrachten.

Was mache ich jetzt mit meiner Lebenszeit?

Wer seinen Job verliert, dem bricht nicht nur das Gehalt, sondern auch die ganze Alltagsstruktur weg: Wer arbeitet, zieht sich morgens an, steigt in den Bus, trifft Kollegen, hat eine Mittagspause und fährt abends wieder zurück nach Hause. Ohne Job fallen all diese kleinen Kontakte zu anderen Menschen weg und auch die klare Zeitstruktur eines Tages. Diese fehlende Struktur macht es dann sehr schwierig, sich wieder aufzuraffen. Ich erinnere mich an eine Frau, die selbst gestaunt hat, wie schnell es ging, dass sie nach der Arbeitslosigkeit keinen einzigen Termin mehr einhalten konnte, nur, weil ihre jahrelang vorgegebene Struktur weg war.

Dieser Motivationsabfall ist aber sehr individuell. Ich erlebe Menschen, die auch nach zwei Jahren noch alles daran setzen, einen neue Arbeit zu finden, Bewerbungen schreiben und sich weiterbilden. Anderen hilft es, eine sinnvolle Tätigkeit zu finden, die ihr Leben füllt und erfüllt. Ich zitiere häufig Goethe, der sagte: "Tätig zu sein ist des Menschen erste Bestimmung." Denn so ist es. Alle Menschen wollen tätig sein und wer seinen Job verliert, muss anderen Sinn im Leben finden. Wir haben bei uns in der Kirche einen Mann, der uns ehrenamtlich unterstützt und dabei sehr zuverlässig und strukturiert ist. Er ist zwar arbeitslos, hat sich durch seine Aufgaben bei uns aber ein ganz eigenes Arbeitsleben erschaffen.

Ich erlebe, dass Arbeitslose sich wieder besser fühlen, sobald sie so eine Tätigkeit für sich gefunden haben. Das kann die private Betreuung eines Pflegebedürftigen sein, aber auch, obwohl ich dieses Format grundsätzlich ablehne, ein simpler 1-Euro-Job. Der Weg dahin ist aber lang, denn wer seinen Job verliert, muss sich erst einmal sortieren und sich mit ganz elementaren Fragen auseinandersetzen: Wer bin ich eigentlich ohne Job? Was ist für mich der Sinn des Lebens?

Die Angst vor dem Jobcenter ist oft größer als die Armut

Eines der belastenden Themen für Arbeitslose sind die Gänge zum Amt. Die Angst vor den Behörden ist riesig und oft schlimmer als die Armut selbst, weswegen einige lieber auf Geld verzichten, als sich dort Hilfe zu holen. Das finde ich schlimm mitanzusehen. Das geht damit los, dass viele Hartz-IV-Empfänger schlecht Deutsch sprechen. Sie haben Angst, etwas falsch auszufüllen oder misszuverstehen, was ja schon Muttersprachlern oft so geht, wenn sie vor Behördendeutsch sitzen. Dazu kommt, dass es für die betroffenen Menschen nicht um Kleinigkeiten geht, sondern ihre Existenz. Der Sachbearbeiter, vor dem man sitzt, entscheidet immerhin über das Geld zum Leben, über den Einkauf und die Wohnung – da entsteht ein großes Machtgefälle und man möchte natürlich keine Fehler machen.

"In Deutschland definieren sich die Menschen extrem über ihren Job."

Ich rate den Menschen daher immer, nicht alleine zum Amt zu gehen, einen Freund mitzunehmen oder jemanden, der gut Deutsch spricht. Es geht dabei nicht darum, einen "Anwalt" an seiner Seite zu haben, sondern sich nicht so eingeschüchtert und unwohl zu fühlen. Wer mag denn schon in Behörden sitzen? Selbst ich finde die Atmosphäre dort unangenehm.

Corona verschärft die Einsamkeit

Wer arbeitslos wird, wird oft auch einsam: Die finanzielle Armut ist natürlich unmittelbar da, doch auch die Armut an Kontakten und Beziehungen kann extreme Ausmaße einnehmen. Tagsüber sind die gewohnten Kontakte mit Kollegen weg und auch privat kommt es manchmal zu Brüchen, zum Beispiel, weil man den Partner plötzlich ständig zu Hause sieht und nur noch streitet.

Corona hat das alles noch verschärft. Unsere Gruppe konnte sich zum Beispiel nicht mehr treffen, viele Menschen sitzen noch einsamer zu Hause als jemals zuvor. Die Abstandsregelung entspricht nicht dem menschlichen Bedürfnis nach Nähe. Ich bin auch überzeugt, dass Corona zu mehr Arbeitslosigkeit geführt hat, auch wenn sich bei mir noch keine Betroffenen deswegen gemeldet haben. Hier in meinem Umfeld erlebe ich bereits, dass kleine Geschäfte pleitegehen, es ist doch unausweichlich, dass Jobs fehlen werden. Ich hoffe, dass diese Menschen sich trauen, offen darüber zu sprechen, denn gerade bei einer Pandemie braucht man wirklich nicht von Schuld zu reden: Niemand muss sich schämen, seinen Job zu verlieren. Jetzt gilt das noch mehr als sonst.

Praktische Hilfe und echtes Interesse sind die Schlüssel

Wenn ein Freund arbeitslos wird, kann es schon helfen, ihm anzubieten, zum Amt mitzukommen. Dann ist der andere dabei nicht alleine und man hat die Chance, echtes Interesse zu beweisen. Es ist auch schön, einfach etwas miteinander zu unternehmen und weiter den Kontakt zu pflegen.

Um darüber hinaus miteinander ins Gespräch zu kommen, muss man sich schon wirklich gut kennen und füreinander interessieren. Dafür braucht es eine echte Ebene, die nicht auf simplem Abfragen wie: "Was willst du jetzt eigentlich machen?" beruht. Ich biete 14-tägig einen Improvisationstheater-Kurs für Langzeitarbeitslos an und kann sagen: Da spielen wir nicht Jobcenter. Wir arbeiten mit allen Themen, die uns gerade berühren und da ist Arbeitslosigkeit oft nur am Rande dabei. Vielmehr geht es mir um ein offenes Miteinander und ein Gemeinschaftsgefühl, das in das Leben hineinwirkt.

Eine Geschichte, die für mich Symbolcharakter hat, ereignete sich, als ich im Urlaub war. Einer Frau aus meiner Gruppe ging es so schlecht, dass sie wusste, sie muss in die Psychiatrie. Sie versuchte mich anzurufen, damit ich mit ihr dahin gehe, aber ich war nicht zu erreichen und dann hat sie eine Andere aus der Gruppe angerufen, die ihr half. Mir zeigt das, wie wichtig es ist, diese Räume zu bieten, in denen Menschen miteinander in Kontakt kommen. Und es zeigt auch: Der beste Gesprächspartner ist oft der, der sich in der gleichen Situation befindet wie man selbst. Nächstes Jahr gehe ich in Rente, aber diese Geschichte erinnert mich immer daran, dass auch meine Tätigkeit am Ende sinnvoll war.

Protokoll: Julia Dombrowsky

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