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"Meeresrotz" auf dem Marmarameer: Experte erklärt die Folgen für Mensch und Natur

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Auf den ersten Blick einfach eine schöne Promenade in Istanbul – wäre da nicht der Schleim auf dem Wasser. Bild: www.imago-images.de / Erhan Demirtas
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Phänomen "Meeresrotz" auf dem Marmarameer: Experte erklärt, was es damit auf sich hat – und beschreibt die Folgen für Natur und Mensch

09.06.2021, 13:1209.06.2021, 15:33
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Eine dicke Schleimschicht bedeckt derzeit das Marmarameer vor Istanbul. Nicht nur Umwelt- und Tierschützer sind darüber besorgt, auch Fischer aus der Region haben jetzt ein großes Problem, denn der "Seerotz" macht ihre Arbeit nahezu unmöglich. Wie ist es dazu gekommen, dass sich eine derart hartnäckige Plage ausgebreitet hat – und welche Folgen ergeben sich daraus für die umliegende Region? Meeres-Experte Thilo Maack von Greenpeace erklärt gegenüber watson, was es mit dem Auftauchen der Schleimschicht auf sich hat.

Nur wenige Tage vor dem internationalen Welttag der Ozeane geht die Meldung über das türkische Marmarameer durch die Nachrichten. Auf der Oberfläche des Binnenmeers, welches das Schwarze Meer mit der Ägäis verbindet, befindet sich massenweise Schlamm, der sich voraussichtlich auch auf dem Meeresboden absetzen wird.

"Da die Meerestemperaturen ansteigen, die Sonneneinstrahlung zunimmt und die Ökosysteme durch menschliche Aktivitäten angegriffen sind, werden die Voraussetzungen für solchen Meeresschleim immer günstiger."

Maack erklärt, wie der Schleim sich gebildet hat: "Dieses Phänomen tritt immer häufiger in den Mittelmeerländern aber auch in anderen Meeresteilen auf in Monaten mit starker Sonneneinstrahlung und hoher bakteriologischer Aktivität in den oberen Wasserschichten. Der Meeresrotz besteht aus abgestorbenen Mikroalgen, -organismen, Eiweißresten aus Algenaggregaten und Plankton." Auch der Klimawandel hat das Auftauchen des Schlamms begünstigt, sagt der Experte: "Da die Meerestemperaturen ansteigen, die Sonneneinstrahlung zunimmt und die Ökosysteme durch menschliche Aktivitäten angegriffen sind, werden die Voraussetzungen für solchen Meeresschleim immer günstiger."

03.06.2021, Türkei, Istanbul: Eine dicke Schicht von Meeresschleim bedeckt das Marmarameer am Fischerhafen von Kartal, auf der asiatischen Seite Istanbuls. (Aufnahme mit einer Drohne) Das türkische Ma ...
Fischen und Baden sind derzeit im Marmarameer nicht möglich.Bild: - / Hüseyin Aldemir

Nicht nur der Greenpeace-Experte, auch der türkische Staatspräsident Erdoğan bringt das Auftauchen des Schleims mitunter mit menschlichem (Fehl-)Verhalten, nämlich mit unbehandelten Abfällen, in Verbindung. Wie die Tagesschau berichtete, versprach Erdoğan, das Problem schnell anzugehen: "Wir werden unsere Meere vor dieser Schleimkatastrophe retten, allen voran das Marmarameer", sagte er.

Maack fordert diesbezüglich mehr Hilfe durch die Politik – damit sich eine solche Katastrophe nicht wiederholt: "Abfälle, vor allen Dingen die Einleitung von Nitrat/Nitrit und Phosphaten aus der Landwirtschaft aber auch aus ungeklärten Abwässern der Haushalte und Hotelburgen entlang der Mittelmeerküste sind die Gründe für die Entstehung. Hier muss der Hahn zugedreht werden – die entsprechenden Gesetze müssen von der Politik kommen."

"Auch die Ostsee kann in den Sommermonaten bei gleichen Bedingungen betroffen sein."

Schlammschicht könnte sich weiter ausbreiten

Die hartnäckige Schleimplage bedeckt derzeit nicht nur das Marmarameer – auch das angrenzende Schwarze Meer und die Ägäis sind betroffen. Maack stuft die Gefahr, dass sich die Schicht noch weiter ausbreitet, als äußerst hoch ein – unter der Voraussetzung, dass sich am Wetter, besonders der hohen Sonneneinstrahlung und der geringen Wind- und Wellenbewegung, nichts ändert. Nicht nur umliegende Gewässer könnten befallen werden: "Auch die Ostsee kann in den Sommermonaten bei gleichen Bedingungen betroffen sein."

08.06.2021, T�rkei, Istanbul: Ein Mitarbeiter tr�gt einen Mund-Nasen-Schutz, w�hrend er in einer schleimigen Substanz steht und diese mit einem Schlauch absaugt. Der Schleim im Marmarameer besteht aus ...
Den Schlamm manuell zu entfernen, dürfte sehr lange dauern.Bild: AP / Kemal Aslan

Erdoğan hat das Umweltministerium angewiesen, mit Hochschulen, Stadtverwaltungen und anderen Institutionen zusammenzuarbeiten, um die Schlammschicht zu bekämpfen. Den Meeresrotz manuell abzufischen hält Maack allerdings für unwirksam. Stattdessen müssen sich seiner Einschätzung nach die Umweltbedingungen ändern. "Regen, Wind und Wellen werden den Meeresschleim über kurz oder lang auflösen. Aber in den nächsten Wochen ist nicht davon auszugehen, dass das passiert", sagt der Experte.

Meeresrotz begünstigt Entstehen von Todeszonen

Bis es so weit ist, können zahlreiche Langzeitschäden in dem befallenen Gebiet entstehen. "Langfristig sorgt eine solche Deckschicht auf dem Meer für eine Verlangsamung der oberflächennahen biologischen Aktivitäten. Irgendwann sinkt der organische Anteil auf den Boden und wird dort weiter von Bakterien aufgezehrt. Dabei wird Sauerstoff entzogen und es kann zu regelrechten Todeszonen auf dem Meeresboden kommen. Diese Bereiche breiten sich – auch in der Ostsee – immer weiter aus, Tendenz steigend."

Ein aktueller Bericht der Vereinten Nationen (UN) bestätigt, was Maack sagt: Die Zahl der sogenannten Todeszonen in den Weltmeeren ist deutlich gestiegen. Von 2008 bis 2019 haben sich dem zweiten World Ocean Assessment zum Zustand der Meere zufolge etwa 300 neue Gebiete gebildet, in denen der Sauerstoffgehalt so gering ist, dass Pflanzen und Tiere nicht überleben können.

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Auch das Kanu bewegt sich nur langsam durch den zähen Meeresschleim.Bild: AP / Kemal Aslan

So leiden die Tiere unter der Schleimplage

Fischer können ihrer Arbeit nicht nachgehen, die Menschen können nicht baden gehen und die Natur leidet spürbar. Auch an den Tieren, die in der betroffenen Region leben, geht die Schleimplage nicht spurlos vorbei. Maack erklärt: "Meeressäugetiere und Schildkröten müssen an die Oberfläche, um zu atmen. Diese Tiere haben ein echtes Problem mit dem Meeresschleim. Aber auch die Abermillionen Planktonorganismen – dazu gehören verschiedene Pflanzen- und tausende Tierarten – sind in dem Meeresschleim gefangen, sterben und ihre organischen Hüllen verschärfen das Problem weiter."

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Eine riesige Masse von Meeresschleim schwimmt auf dem Marmarameer.Bild: AP / Kemal Aslan

Der Wissenschaftler ist davon überzeugt, dass das Phänomen weitreichende Folgen für das gesamte Meeres-Nahrungsnetz hat. Diese müssen dringend untersucht werden, zudem sollten seiner Meinung nach großflächiger Schutzgebiete eingerichtet werden. "Auf einer Fläche von mindestens 30 Prozent der Ozeane muss bis spätestens 2030 die Meeresnatur sich weitestgehend selber überlassen bleiben. Damit gesunden die Ökosysteme und die Selbstheilungskräfte der Natur können sich entfalten."

"Vielleicht braucht es solche Entwicklungen wie im Marmarameer in der Türkei, damit wir Menschen endlich die Augen öffnen und feststellen, dass es so nicht weitergehen kann."

So drastisch die aktuelle Lage an der Küste Istanbuls auch ist – Thilo Maack erkennt darin auch etwas Positives. Er hofft, dass das Auftauchen des Schleims für viele Menschen als Weckruf fungiert: "Vielleicht braucht es solche Entwicklungen wie im Marmarameer in der Türkei damit wir Menschen endlich die Augen öffnen und feststellen, dass es so nicht weitergehen kann."

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