Irgendwie will man Alexander Nübel gerade einfach nur in den Arm nehmen. Oder ihm wenigstens im Sinne der geltenden Kontaktbeschränkungen aus mindestens anderthalb Metern Entfernung durch die Atemmaske zurufen: "Das wird schon, Alex! Kopf hoch, es kommen auch wieder bessere Tage!"
Seitdem feststeht, dass der 23-jährige Torwart zur kommenden Saison für fünf Jahre vom FC Schalke 04 zu den Bayern wechselt, musste sich Nübel nämlich schon so einiges anhören. Er ist noch nicht mal bei seinem neuen Verein angekommen. Doch er bekommt jetzt schon zu spüren, wie es sich in etwa anfühlen wird, stets prominent beim wichtigsten (und vielleicht meistgehassten) Fußballklub Deutschlands in der Öffentlichkeit zu stehen.
Kritik an seinem Transfer zum großen FC Bayern gab es für den ehemaligen U21-Nationaltorwart in den vergangenen Wochen und Monaten schon zu genüge – und zwar aus allen Richtungen: Die Schalker Fans nahmen es Nübel übel, dass er die Königsblauen gen München verlässt. Für sie war es wie ein Schlag ins Gesicht, nachdem Manuel Neuer 2011 schon genau den gleichen Move nach München gemacht hat.
Die Fans verunglimpften Nübel mit Sprechchören, weil er patzte, bis er auf dem Platz zu weinen begann. In der Folge verlor Nübel sogar seinen Stammplatz im Schalker Tor an Markus Schubert.
Ex-Profis und Experten sprachen ihm teilweise die Qualität für die höchsten Aufgaben im deutschen Vereinsfußball ab. Überhaupt sei der Schritt zu früh und etwas zu mutig, zu ambitioniert für den Ex-Paderborner, der bisher auf Schalke gerade mal 40 Bundesligapartien im Kasten absolviert hat. Das sind nur eine Handvoll mehr Spiele als Nübel in der Westfalen- und Regionalliga machte (insgesamt 35).
Der FC Bayern veröffentlichte am Donnerstag sogar eine Stellungnahme von Vorstandsboss Karl-Heinz Rummenigge zu der Kritik, die auf Nübel einprasselt: "In den vergangenen Wochen ist immer wieder über Alexander Nübel berichtet worden. Im Namen des FC Bayern möchte ich klarstellen: Alle Entscheidungsträger des FC Bayern inklusive Cheftrainer Hansi Flick sind sehr glücklich darüber, dass Alexander Nübel zur neuen Saison Spieler des FC Bayern wird."
Denn auch das aktuelle Dreigestirn im Tor des Profikaders der Bayern ist schon vor Nübels Ankunft eifrig dabei, sein Revier zu markieren: Platzhirsch Manuel Neuer, dessen zuverlässiger Stellvertreter Sven Ulreich und Nachwuchshoffnung Christian Früchtl wollen sich ihren jeweiligen Platz in der Torhüterhierarchie nicht einfach so von einem Neuankömmling streitig machen lassen.
Mit öffentlichen Aussagen gibt das aktuelle FCB-Torwarttrio dem Keeper-Novizen gerade die volle Breitseite und macht ihm damit klar: Das wird nicht einfach für dich, glaube bloß nicht, dass du einfach zu Bayern wechseln und sofort eine große Nummer sein kannst.
Neuer sagte zum Beispiel, nachdem der Transfer fix war: "Alex Nübel ist ein Toptorwart, dem vielleicht auch irgendwann die Zukunft gehört." Aber für Neuer spiele das keine Rolle, dass er zum FC Bayern kommt, wie er damals erklärte: "Ich bin kein Statist, sondern Protagonist." Es sei "unerheblich" für den 34-Jährigen, dessen Vertrag 2021 ausläuft, dass Nübel kommt. Der Nationalkeeper soll auch nicht bereit sein, Kompromisse zu machen, was ein angebliche Klausel im Nübel-Vertrag angeht, die besagen soll, dass Nübel in mehreren Pflichtspielen zum Einsatz kommen wird.
Die Nummer eins im Tor kann Nübel sich wohl erstmal abschminken, solange Neuer fit und in Form ist. Doch auch der Kampf um die Nummer zwei wird für den Jungtorwart nicht einfach, wenn man sich die jüngsten Aussagen von Ulreich, Früchtl beziehungsweise deren Beratern genau ansieht.
Sven Ulreich, 31 Jahre alt, seit 2015 zuverlässiger Ersatzkeeper beim Bundesliga-Spitzenreiter, hatte bereits Anfang dieses Jahres selbstbewusst erklärt: "Wenn ich bleibe (er hat einen Vertrag bis 2021, Anm.), werde ich alles dafür tun, um hinter Manuel die Nummer zwei zu bleiben." Sein Berater Jürgen Schwab schob am Montag im "Kicker" hinterher: "Der FC Bayern ist eine Leistungsgesellschaft, in der sportlich entschieden wird. Schauen wir mal, wer am Ende hinter Manuel Neuer auf der Bank sitzt."
Selbst die Nummer drei im Rekordmeistertor, Christian Früchtl, gibt sich siegessicher und unbeeindruckt: "Mir ist das vollkommen egal, ob ein Alexander Nübel kommt. Oder wer auch immer. Ich will mich beim FC Bayern München durchsetzen", soll der Stammtorwart der U23 des FC Bayern, die in der 3. Liga spielt, unmittelbar nach der Verpflichtung von Nübel gesagt haben. Das verriet jüngst dessen Berater Christian Rößner in einem Interview mit der Münchener "Abendzeitung".
Pikant dabei: Zwar soll der 20-jährige Früchtl in der kommenden Saison laut Medienberichten ausgeliehen werden, doch an seinem Vorhaben, sich bei den Bayern durchzusetzen, ändere dies nichts. Rößner bestätigte der "AZ", dass man sich "grundsätzlich einig" sei, dass Früchtl ausgeliehen werde. Der Spieleragent unterstrich jedoch auch: "Aufgrund seiner Fähigkeiten hat es Christian nicht nötig zu flüchten. Ganz im Gegenteil."
Und dann gab es auch von Rößner noch einen ordentlichen Seitenhieb auf Nübel: "Wir machen aber sicherlich nicht den Fehler, den ein Nübel oder sein Berater machen, jetzt nach München zu gehen und sich dort auf die Bank zu setzen." Der Rößner-Plan für seinen Mandanten geht so: "Wegzugehen, höherklassig zu spielen, sich dort zu zeigen, um dann zu Bayern München zurückzugehen und zu sagen: 'Ich habe die Spielpraxis, die andere nicht haben.'"
Auch das griff Rummenigge in der Donnerstag veröffentlichten Stellungnahme des Klubs auf: "Wir möchten festhalten, dass sich der FC Bayern abwertende Kommentare von Spielerberatern über andere Spieler des FC Bayern grundsätzlich verbittet."
Fehlt eigentlich nur noch der vierte beziehungsweise fünfte Torwart im Bunde: Ron-Thorben Hoffmann. Der ist 21 Jahre alt, gilt ebenfalls als sehr talentiert, aber ist selbst in der U23 hinten dran. Auch Hoffmann (Vertrag bis 2021) hat sich im Januar schon nach dem Nübel-Transfer geäußert. Er sagte der "Bild"-Zeitung: "Wenn mich der FC Bayern als dritten Torhüter sieht und wir (die U23, Anm.) in der kommenden Saison in der 3. Liga spielen, bleibt Bayern eine Option für mich. Ansonsten bin ich weg. Dann möchte ich die Freigabe."
Immerhin hat Hoffmann oder sein Berater in dieser Angelegenheit noch keine Giftpfeile auf Nübel geschossen. Das ist ja schon etwas. Liegt wohl auch daran, dass Hoffmann bei einer Früchtl-Leihe zu einem anderen Klub zur Nummer eins in der Drittliga-Mannschaft aufstiege.
Und, um auch noch einen ehemaligen Bayern-Keeper zu Wort kommen zu lassen: Unser eingangs erwähntes Mitgefühl für Nübel teilt auch Jean-Marie Pfaff. Der Belgier war in den Achtzigern einer der weltbesten Torhüter und stand zwischen 1982 und 1988 beim FCB zwischen den Pfosten: "Es ist keine angenehme Situation für Nübel", erklärte Pfaff gegenüber "Sport 1", "es ist schon schade, dass er es gerade von allen Seiten abbekommt."
Doch auch der Altstar hat Bedenken, was den Wechsel des Noch-Schalkers angeht: An Nübels Stelle wäre Pfaff "noch zwei Jahre auf Schalke geblieben. Er hätte auch später zu den Bayern wechseln können". Pfaff gehe überdies davon aus, dass Neuer seinen Vertrag verlängern werde: "Dann wird er weiter die Nummer eins sein, das weiß Nübel auch."
Egal, wo Nübel in der Torwarthierarchie bei seinem künftigen Arbeitgeber stehen wird: Für die Leistungsgesellschaft Bayern München muss er sich noch ein dickes Fell zulegen. Auch wenn er jetzt offiziell weiß, dass immerhin "alle Entscheidungsträger des FC Bayern inklusive Cheftrainer Hansi Flick sehr glücklich" über Nübels Wechsel sind.
(as)