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Keine Liebe für diese EM: Warum mir zum ersten Mal ein Fußball-Großturnier egal ist

SEEFELD IN TIROL, AUSTRIA - MAY 28: Head coach Joachim Loew looks on during Day 1 of the Germany training camp ahead of the UEFA EURO 2020 on May 28, 2021 in Seefeld in Tirol, Austria. (Photo by Andre ...
Bundestrainer Jogi Löw im Trainingslager der deutschen Nationalmannschaft in Seefeld in Tirol. Bild: Getty Images Europe / Andreas Schaad
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Keine Liebe für diese EM: Zum ersten Mal in meinem Leben ist mir ein Fußball-Großturnier egal

11.06.2021, 10:0611.06.2021, 16:15
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"Weißt Du noch, wo du warst, als...?"

So beginnen die Fragen, mit denen Menschen Gespräche über große Ereignisse einleiten.

Und ich, ich weiß bis heute, wo ich war, als die deutsche Fußballnationalmannschaft bei der Europameisterschaft gespielt hat. Und bei der Weltmeisterschaft. Ich weiß das wirklich über jedes einzelne Spiel Deutschlands, bei jeder Fußball-WM und EM seit 1994. Man könnte ein Redaktionsspiel draus machen: Meine Kollegen sagen mir eine beliebige Partie, ich beschreibe ihnen den Ort, an dem ich sie erlebt habe.

Ich war sieben und saß auf dem Teppich unseres Wohnzimmers in der Oberpfalz, in der warmen Nachmittagssonne, als 1994 der Bulgare Yordan Letchkov das Team um Rudi Völler und Jürgen Klinsmann aus dem Turnier köpfte. Ich war neun und schlug mit der Faust auf ebendiesen Teppich, als Oliver Bierhoff 1996 im EM-Finale das Golden Goal gegen Tschechien ins Tor stocherte.

Beim WM-Halbfinale 2006 war ich 19 und habe geheult. Und heute ist da nichts.

Ich war 19 und ja, ich habe geheult in unserer kleinen Wohnküche in unserem damaligen Wohnort in Süditalien, als Alessandro Del Piero im Juli 2006 den Traum vom WM-Sieg daheim mit einem grausam wunderbaren Schlenzer beendete. Und was habe ich 2014 gebrüllt, in dieser großartigen Kneipe in Regensburg, als Götze ihn machte und wir Weltmeister waren. Wenig später, auf dem Domplatz, schrie ich wildfremden Menschen ins Gesicht.

Und heute ist da nichts.

Wenige Stunden, bevor es losgeht mit der Europameisterschaft 2021, die eigentlich Europameisterschaft 2020 heißt: keine Vorfreude, kein Kribbeln, nicht mal der Drang, den Spielplan zu studieren.

Vor den Turnieren von 1994 bis 2018 habe ich mir Sonderhefte gekauft, manchmal Sticker-Sammelalben. Immer habe ich vor dem Turnier Zeitungsartikel gefressen, über die Spieler auf dem Feld, die taktischen Feinheiten der Trainer, über die Eigenheiten der Gastländer.

Und es war ja nie nur die deutsche Nationalmannschaft bei mir. Bis heute kann ich mich an den 3:2-Sieg von Nigeria gegen Spanien in der Vorrunde der WM 1998 in Frankreich erinnern. An das Golden Goal, das der Franzose David Trézeguet im Sommer 2000 gegen Italien im Finale der EM 2000 ins Netz hämmerte. An den unfassbaren Triumph der Griechen, die sich 2004 mit banal-genialen Kopfballtoren nach Ecken und Freistößen den EM-Titel erkämpften.

"Ich hatte, es muss 2010 gewesen sein, mal einen Albtraum, der so ging: Die WM war losgegangen und ich hatte es verpasst. Und jetzt? Jetzt ist mir diese EM auf einmal wirklich egal."

Ich hatte, es muss 2010 gewesen sein, mal einen Albtraum, der so ging: Die WM war losgegangen und ich hatte es verpasst. Und jetzt? Jetzt ist mir diese EM auf einmal wirklich egal.

Fußball war mir in den vergangenen zweieinhalb Jahrzehnten ein Lebensbegleiter. Ich habe bestimmt mehrere Lebensjahre damit verbracht, Fußballspiele zu schauen, in Fußballstadien zu fahren, über Fußball zu diskutieren. Die meiste Zeit ist immer für meinen Herzensverein draufgegangen: 1860 München, den kleinen Verein aus München, der seit fast 20 Jahren kaum mehr Geld hat und trotzdem immer noch zigtausende Fans.

Aber an der Nationalmannschaft hat mein Herz auch immer gehangen. Wahrscheinlich, weil ich die acht Jahre meiner Teenagerzeit in Italien gelebt habe – und mir Miroslav Klose, Basti Schweinsteiger und Michael Ballack ein Stück Heimat bedeutet haben, gerade, wenn mir das Heimweh wieder hart aufs Herz schlug.

Die großen Turniere, die Europa- und Weltmeisterschaften, das waren immer die Wochen, in denen ich meine ganze Freizeit an den Partien ausrichtete. 2018, zum Finale, da fuhren meine Frau und ich extra nach Straßburg, um das Spiel zwischen Frankreich und Kroatien direkt bei einem der beiden Finalisten anzuschauen, in einer Altstadtkneipe.

Heute, vor diesem ersten Turnier seit Beginn der Corona-Pandemie, weiß ich auf Anhieb nicht einmal, wann und wo das Finale überhaupt stattfindet.

Was ist da passiert?

Mein Problem mit dem Fußball beginnt in der obersten Etage

Die Liebe am Fußball habe ich behalten, das weiß ich. Meine Sechzger habe ich in der vergangenen Saison mit so viel Herzklopfen verfolgt wie eh und je, trotz leerer Stadien – und sie haben ja auch Spaß gemacht, fast hätte es geklappt mit dem Aufstieg in die 2. Bundesliga. Die Bundesliga habe ich mitgemacht, habe ernstes Mitleid verspürt mit den Fans der Schalker, mich gefreut über die nächste tolle Saison der Frankfurter, schadenfroh gegrinst über das Pokal-Aus der Bayern.

Das Problem zwischen mir und dem Fußball beginnt eine Etage weiter oben: Es ist mir atemberaubend egal, mit wie vielen Punkten Vorsprung hat Bayern München diesmal zum neunten Mal in Folge Deutscher Meister geworden ist. Zum ersten Mal, seit ich fußballerisch denken kann, habe ich in dieser Saison kein Champions-League-Spiel verfolgt, keine einzige Sekunde.

Diese seltsame Klub-WM in Katar, wer hat die nochmal gewonnen? Dieses weltfremde Luxusturnier, zu dem die Spieler von Bayern München mitten in der zweiten Pandemie-Welle geflogen sind – und sich aufgeführt haben wie politische Gefangene, als sie mitten in der Nacht keine Sondererlaubnis zum Start in Berlin bekommen haben?

Als das mit der Super League öffentlich wurde, da habe ich mich schon nicht mehr wirklich aufgeregt. Pläne für eine abgeschottete Elite-Liga ohne Auf- und Abstiegsmöglichkeiten, in der die reichsten Teams Europas noch viel reicher als die anderen werden sollten: Warum sollte mich dieser symbolische Faustschlag in die Fresse des Rests der Fußballwelt noch wundern – nach einem Jahr, in dem die Pandemie einem Großteil der Weltbevölkerung einen großen Teil der Lebensfreude genommen hatte und Profifußballer reihenweise weiter auf ihren Privilegien bestanden hatten?

Dass mir diese Europameisterschaft nichts mehr bedeutet, das fühlt sich an wie erkaltete Liebe: Die Fragen rund um die Aufstellung der Nationalmannschaft, der Spielplan, die Aussichten auf spannende Fußballabende: Ich weiß, dass mir all das noch bis vor drei Jahren viel bedeutet hat – aber beim Gedanken an die kommenden Wochen spüre nichts mehr. Das Schulterzucken, die totale Indifferenz zu denen ganz oben im Weltfußball, sie scheint bei mir jetzt auch die Nationalmannschaften erreicht zu haben.

Ich wünsche mir, dass sich das noch ändert, bis Dienstagabend, bis Deutschland gegen Frankreich spielt. Dass es dann wieder so ähnlich kribbelt wie 2016, vor dem letzten EM-Halbfinale, als ich mit zappelnden Füßen und Deutschlandtrikot am Körper in diesem Regensburger Kinosaal saß und kaum erwarten konnte, dass es losgeht.

Aber ich fürchte, dass es nicht mehr so sein kann.

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