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Heinsberg-Studie liefert mögliche Dunkelziffer von 1,8 Millionen Infizierten

Wie viele Menschen haben sich schon mit dem Coronavirus infiziert? Die Heinsberg-Studie liefert eine mögliche Dunkelziffer.
Wie viele Menschen haben sich schon mit dem Coronavirus infiziert? Die Heinsberg-Studie liefert eine mögliche Dunkelziffer.Bild: picture alliance/Geisler-Fotopress

Heinsberg-Studie liefert mögliche Dunkelziffer von 1,8 Millionen Infizierten

04.05.2020, 12:0904.05.2020, 12:20
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Nach einem ersten viel beachteten Vorbericht liegt nun die sogenannte Heinsberg-Studie vor. Die Wissenschaftler um den Virologen Hendrik Streeck veröffentlichten am Montag ihre Ergebnisse.

Das zentrale Ergebnis: Laut den Schätzungen der Forscher liegt die Zahl der Corona-Infizierten in Deutschland bei schätzungsweise mindestens 1,8 Millionen und ist damit um das Zehnfache höher als offiziell angegeben. Die Hochrechnung basiert auf Daten des Robert-Koch-Instituts (RKI) vom Sonntag mit rund 162.600 offiziell gemeldeten Infektionen und fast 6700 Todesfällen.

Das RKI selbst geht davon aus, dass die Dunkelziffer deutlich höher liegt. Forscher hatten allerdings schon bei Veröffentlichung des Vorberichts Zweifel angemerkt, wie repräsentativ die Zahlen der Heinsberg-Studie wirklich sind.

Wie sind die Forscher vorgegangen?

Die Wissenschaftler der Uni Bonn um den Virologen Streeck befragten und testeten in Gangelt im Kreis Heinsberg vom 30. März bis zum 6. April insgesamt 919 Menschen in 405 Haushalten, um Rückschlüsse auf das Infektionsgeschehen in Deutschland ziehen zu können.

Der Landkreis gehört zu den am frühesten und stärksten von der Corona-Pandemie erfassten Gebieten in Deutschland. In Gangelt wird zudem davon ausgegangen, dass ein Großteil der Infektionen schlagartig über eine Karnevalssitzung erfolgte. Das war andernorts so nicht der Fall, was die Schätzungen für ganz Deutschland schwierig macht.

Im Zentrum der Studie stand daher die Ermittlung der Sterblichkeitsrate, also des Anteils der Todesfälle unter den Infizierten. Die Studie bestätigte das bereits veröffentlichte Zwischenergebnis, wonach 15 Prozent der Bewohner von Gangelt eine Infektion durchmachten. Daraus ermittelten die Forscher die Sterblichkeitsrate, die in Gangelt bei 0,37 Prozent liegt.

Mit der Sterblichkeitsrate lässt sich den Forschern zufolge anhand der Zahl der Verstorbenen auch für andere Orte in Deutschland mit anderen Infektionsraten abschätzen, wie viele Menschen dort insgesamt mit dem Coronavirus infiziert sind. Der Abgleich dieser Zahl mit den offiziell gemeldeten Infizierten führt zur sogenannten Dunkelziffer. Für ganz Deutschland ergibt die Hochrechnung demnach bislang mindestens rund 1,8 Millionen Infizierte.

"Mit unseren Daten kann nun zum ersten Mal sehr gut geschätzt werden, wie viele Menschen nach einem Ausbruchsereignis infiziert wurden", erklärte Studienleiter Streeck.

Weitere Ergebnisse der Heinsberg-Studie

Wie die Studie weiter zeige, verlaufe offenbar etwa jede fünfte Infektion ohne Krankheitssymptome. 22 Prozent der Infizierten in Gangelt waren symptomfrei.

Dies bestätige die Wichtigkeit der Hygiene- und Abstandsregeln. "Jeder vermeintlich Gesunde, der uns begegnet, kann unwissentlich das Virus tragen", erklärte Koautor und Hygieneexperte Martin Exner.

Das Alter spielt beim Infektionsrisiko der Studie zufolge keine übergeordnete Rolle. In den untersuchten Mehrpersonenhaushalten war das Risiko für die Ansteckung einer weiteren Person überraschend gering. "Die Infektionsraten sind bei Kindern, Erwachsenen und Älteren sehr ähnlich und hängen offenbar nicht vom Alter ab", erklärte Streeck. Es gebe auch keine signifikanten Unterschiede zwischen den Geschlechtern.

So haben die Forscher getestet:
Die Forscher verwendeten sowohl den gängigen PCR-Test, mit dem akute Infektionen erfasst werden, als auch Antikörpertests. Diese zeigen, wer eine Infektion hatte und zumindest zeitweise immun ist. Der Antikörpertest Elisa zeigt laut Vorstudien in etwa einem Prozent der Fälle fälschlicherweise eine durchgemachte Infektion an.

Bei einem hohen Prozentsatz an Infizierten wie in Gangelt ist dies den Forschern zufolge nicht relevant. Bei den unter anderem vom RKI geplanten deutschlandweiten Studien mit einer geschätzten Infektionsrate von etwa einem bis zwei Prozent sei dieser messtechnische Unsicherheitsfaktor jedoch ein Problem.​

Wie repräsentativ sind die Aussagen der Heinsberg-Studie?

Bei Erscheinen der ersten Ergebnisse aus der Heinsberg-Studie, die von der Landesregierung in NRW gefördert und von einer PR-Firma unterstützt wurde, meldeten Experten Zweifel an der Allgemeingültigkeit der Aussagen an.

Der Virologe Alexander Kekulé etwa sagte in seinem Podcast damals: "Wenn Sie eine Stichprobe an einem Ort machen, in dem es gerade einen akuten Ausbruch gegeben hat, dann kann man das auf keinen Fall auf ganz Deutschland beziehen."

Streeck selbst wies darauf hin: "Welche Schlüsse aus den Studienergebnissen gezogen werden, hängt von vielen Faktoren ab, die über eine rein wissenschaftliche Betrachtung hinausgehen." Und: "Die Bewertung der Erkenntnisse und die Schlussfolgerungen für konkrete Entscheidungen obliegen der Gesellschaft und der Politik."

(ll/afp)